Was an Otto Normalverbraucher normal ist

Wolfram Kautzky geht in seiner Kolumne "Wortklauberei" den Wörtern auf den Grund.
Wolfram Kautzky

Wolfram Kautzky

Aus gegebenem Anlass: Was ist eigentlich „normal“? Während dieser Frage politisch offenbar nicht beizukommen ist, stellen sich die Dinge in sprachlicher Hinsicht ganz einfach dar. Lateinisch norma bedeutet „Richtschnur, Regel“, aber auch „rechter Winkel“ (zwei Gerade, die „normal“ aufeinander stehen, schließen also einen Winkel von 90 Grad ein).

Von norma abgeleitet sind zwei Adjektiva: „abnorm“ bedeutet „weg von der Norm“ (ab- =„von etwas weg“, vgl. Ab-transport, Ab-senz); „enorm“ heißt „aus der Norm“ (e/ex- = „hinaus“, vgl. Ex-port, e-vakuieren). Wesentlicher Unterschied der beiden Adjektiva trotz ihrer scheinbar ähnlichen Bedeutung: abnorm hat einen negativen Beigeschmack („widernatürlich“), enorm einen positiven („hervorragend“). Die Politik müsste sich also nur drauf einigen, ob Normalität heutzutage schon abnorm oder nicht doch enorm wichtig ist.

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Einen interessanten historischen Hintergrund hat der Begriff „Otto Normalverbraucher“: Als Normalverbraucher wurden während der Mangelwirtschaft des 2. Weltkrieges die Empfänger einer durchschnittlichen Lebensmittelration bezeichnet – zur Unterscheidung von Schwerarbeitern oder Kriegsversehrten, die Extra-Zulagen erhielten.

Das „Otto“ erhielt der Begriff durch den Film „Berliner Ballade“ (1948), in dem ein Kriegsheimkehrer namens Otto Normalverbraucher in der neuen Normalität in Berlin Fuß zu fassen versucht. In weiterer Folge wurde Otto Normalverbraucher zum Synonym für Personen mit durchschnittlichen Bedürfnissen, Eigenschaften und Verbrauchsgewohnheiten.

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Die in der Vorwoche an dieser Stelle gestellte Frage „Wie gendere ich das Wort Hebamme richtig?“ lässt (wie die Klimaerwärmung) keinen kalt. Mehrere kreative Vorschläge wurden Ihrem Wortklauber von Lesern übermittelt: Hebamm (analog zum Schweizer Namenspaar Beat/Beate), Hebammer (Achtung, ornithologische und innenpolitische Verwechslungen möglich!) oder „In-das-Leben-TransportbegleiterInnen“.

Wem das doch ein wenig zu sperrig ist: Tatsächlich gilt Hebamme per Gesetz als Berufsbezeichnung sowohl für Männer als auch für Frauen.

Wolfram Kautzky ist Philologe und geht gerne den Wörtern auf den Grund.

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