Sinneswandel

Sinneswandel
Klaus Eckel über Abstand und Lesebrillen.

Seit letztem Jahr lese ich selbst jede Zeitung mit Abstand. Meine Altersweitsichtigkeit zwingt mich dazu. Sämtliche Gazetten liegen auf der gegenüberliegenden Seite des Esstischs. Meine Frau, die dort sitzt, bitte ich für mich zu blättern. Dafür lese ich ihr den Inhalt vor. Natürlich laut, weil sie mittlerweile schlecht hört. Schön, wenn sich in einer Beziehung die Gebrechen ergänzen. Wenn uns jemand fragt: „Habt ihr alle Sinne beieinander?“ dann können wir zumindest antworten: „Als Paar schon.“

Oft denke ich darüber nach, was mir meine kraftlosen Augen sagen möchten? Vielleicht, dass sie über etliche Themen nichts mehr  lesen wollen. Schwelender Nahostkonflikt, überforderter Finanzminister, Red Bull Salzburg wird Meister. Was war davon je anders? Ich fürchte, dass sich im Alter die aufregungsmüden Augen überhaupt nur noch beim Wetter, Fernsehprogramm und Meghan mit Baby scharf stellen. Mein Interesse an der Welt stemmt sich noch dagegen. Deswegen liegen inzwischen bei mir zu Hause 20 verschiedene Lesebrillen herum. Doch keine, die sich finden lässt. Höchstens von meinem Sohn, der nach einem von der Sofakante aus vorgeführten Ninja-Turtles-Move auf einer am Boden befindlichen landet. Das Knirsch-Geräusch sagt mir dann sofort, jetzt sind es nur noch 19. Aus Angst vor einer etwaigen Augengläser-Verknappung besorge ich mir sofort eine Neue. Lesebrillen sind mein Klopapier.

In den letzten Jahren haben sich auf Einkaufsstraßen die Brillen- und Gehörbehelfgeschäfte epidemisch ausgebreitet. Auf diesen flanieren immer häufiger Menschen mit künstlichen Gelenken, neuen Hüften und dritten Zähnen. Der Mensch wird immer mehr zum kubanischen Straßenkreuzer. Eigentlich kaputt, aber man schraubt weiter. Immer in der Hoffnung, dass die Krone der Schöpfung weiterhin ein Pickerl kriegt.

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