Stadt, Land, Flucht: Grammatik der Schuldzuweisung

Spaghetti al ragù beziehungsweise alla bolognese, wie sie bei uns heißen, sind ein unwiderstehliches Gericht. Sie vermitteln die Geborgenheit der Kindheit, die Unbeschwertheit der Jugend und darüber hinaus Besänftigung und Trost.
Und zwar in der Stadt und auf dem Land. Die Spaghetti eignen sich freilich wenig für ein erstes Date, weil ihr Verzehr ohne Grunzen und Schlürfen schwer möglich ist, und oft hängen einem Nudeln aus dem halb geöffneten Mund.
Obendrein hat die Pasta al ragù einen dramatisch hohen Patz-Faktor, vor allem in Gegenwart eines frischen Leinentischtuchs. In diesem Zusammenhang sprach Frau Freund einen interessanten Satz: „Wehe, du patzt MIR das neue Tischtuch an!“ Das ließ mich doch nachdenklich werden. Inhaltlich hatte sie recht: Bei Patz- und Klecker-Olympiaden wäre ich immer unter den Medaillen-Favoriten, und das Tischtuch aus hellem Leinen würde sich perfekt als Beweismittel für die Punkterichter eignen. Aber warum sagte sie, wehe, du patzt MIR das neue Tischtuch an?
Damit unterstellte sie doch, dass ich das Tischtuch nicht nur anpatze, sondern dass ich das mache, um speziell SIE in Ragù-Rage zu versetzen. In der Grammatik der ehelichen Schuldzuweisungen gebe ich dieser besonderen Form des Dativs die Bezeichnung „Dativ der persönlichen Betroffenheit“. Er taucht immer dann auf, wenn ich etwas in Unordnung bringe, wobei Frau Freund diese Unordnung als persönlichen Affront empfindet.
Letzte Dinge, letzter Bissen
Die Grammatik der Schuldzuweisung kann aber auch die letzten Dinge betreffen. Als meine Tante mich nach dem Tod meines Onkels anrief, schluchzte sie ins Telefon: „Jetzt ist MIR der Franzl gestorben!“ Beklagenswert war nicht Onkel Franz, nein, er war nicht gestorben, er war IHR gestorben, sozusagen absichtlich, vielleicht sogar zu Fleiß. Nicht der Tod an sich war das Problem, sondern die Tatsache, dass er IHR diesen Streich gespielt hatte. Als hätte er sich heimlich davongestohlen, nur um sie zu ärgern – ein letzter Akt der Rebellion nach fünfzig Jahren Ehe.
So schlimm ist es bei Frau Freund und mir noch nicht. Es stand nur das „Wehe“ im Raum, falls ich ... Aber, was soll ich sagen, wir wissen alle, dass Spaghetti nur dann richtig schmecken, wenn sie in hohem Bogen zum Mund geführt werden, begleitet von geschmatzten Schlürfgeräuschen eines Menschen, der im Angesicht der Pasta alle Tischmanieren vergessen hat.
Immer beim allerletzten Bissen!
Und dann passiert es, denn es passiert immer beim letzten, beim allerletzten Bissen: Beim kunstvollen Eindrehen der ultimativen Nudel spritzt die rote Sauce nur so über den Tisch, als wäre der Spaghetto ein mit Sugo gefüllter Gartenschlauch. Das weiße Leinentischtuch saugt sich gierig voll und erinnert in der Folge an ein Requisit aus einem Tarantino-Film.
„Sieht doch toll aus“, sage ich mit gespielter Gelassenheit, „und das habe ich wirklich nur DIR zuliebe gemacht.“
Zum Autor: René Freunds Komödie „Kröten in Not“ läuft gerade mit großem Erfolg in Hamburg.
www.komoedie-hamburg.de
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