Fabelhafte Welt: Landkinder

Was für Stadtkinder ein neuer Trend ist, bedeutet für jemanden, der vom Land kommt viel Arbeit
Vea Kaiser

Vea Kaiser

VEA KAISER über die Ernte

Echte Landkinder im städtischen Exil erkennt man daran, dass sie vor dem Betreten einer Wohnung reflexhaft die Schuhe ausziehen wollen, und an der Größe der Obstkörbe, die sie im Sommer von „zuhause“ bekommen. In den letzten Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte galt es als Zeichen von Wohlstand, seine Früchte nicht selbst anbauen zu müssen. Im letzten Jahrzehnt vollzog sich allerdings eine Kehrtwende:  Ackerbau selbst zu betreiben, ist plötzlich schick. Auf Instagram präsentieren sich mir tagtäglich voller Stolz fotografierte Balkon-Paradeiser oder perfekt ausgeleuchtete Kräuter-Töpfe am Fenstersims. Mit Hingabe und Leidenschaft verweist die neue Generation Gärtner darauf, wie sehr sie sich auf die Ernte und die damit verbundene Handarbeit freut. Echte Landkinder blicken hingegen mit ambivalenten Gefühlen auf bevorstehende Ernten. Für sie bedeutet Ernte vorrangig eines:  Arbeit. Selbst wenn man es schafft, sich vor dem stundenlangen Ausführen unbequemer Positionen in der prallen Sonne zu drücken, heißt das noch lange nicht, dass man der Ernte dadurch entkommen ist. Der wirklich mühsame Teil beginnt oft erst danach. Als meine Mutter und Oma vor zwei Wochen Ribiseln pflückten, war ich glücklicherweise in der Schweiz. Doch als ich zurückkam, warteten auf meinem Schreibtisch nicht nur mein Roman-Manuskript, das in Bälde abgegeben werden muss, sondern noch dazu ein Putzkübel Pfirsiche und eine Bananenkiste Klar-Äpfel. Und denen sind Verlag-Deadlines egal – die wollen haltbar gemacht werden. Keine Lektorin kann je so viel Druck machen wie eine Horde Fruchtfliegen. Und so verbrachte ich die zwei heißesten Juli-Tage bei der Erntenachbereitung: nicht idyllisch kleingärtnernd am gemütlichen Balkon, sondern beim stundenlangen Schneiden und Rühren in der dampfenden Küche. Ein Instagram-würdiger Anblick war das nicht.  
vea.kaiser@kurier.at

 

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