Hurra, Kontrollverlust!

Hurra,  Kontrollverlust!
Klaus Eckel fragt sich, ob nicht die großen Glücksmomente des Lebens im Kontrollverlust schlummern.

„Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ wurde ich einmal bei einem Bewerbungsgespräch gefragt. Laut auflachend antwortete ich: „In 5 Jahren? Ich bin am Vormittag froh, wenn ich meinen Nachmittag im Griff habe“. Die Personalchefin schuldet mir seit 27 Jahren einen Anruf, weil Sie beendete das Gespräch mit: „Wir melden uns“. Doch nach wie vor halte ich jeden Zukunftsplan, der über zwei weitere Atemzüge hinausreicht, für tollkühn. Im März entfernte eine einzige Regierungspressekonferenz in meinem Online-Jahreskalender sämtliche Termine. Bis auf Jom Kippur. Obwohl ich nicht jüdischen Glaubens bin, feierte ich diesen, damit ich irgendetwas zu tun habe.

Mit der Unberechenbarkeit des Lebens freundschaftlich umzugehen, fiel uns Menschen immer schon schwer. Um die Gunst des Schicksals auf unsere Seite zu ziehen, entwickelten wir Rituale wie Beten, Regentänze und Reis werfen. Ich treffe mich zum Beispiel jeden Mittwoch mit Freunden via Skype zum „Daumendrücken gegen Corona“. Doch warum wollen wir alle unsere alten Pläne zurück? Schlummern nicht die großen Glücksmomente des Lebens im genauen Gegenteil, nämlich im Kontrollverlust? Beim Eis essen, Tanzen und Sex entsteht doch erst dann die Ekstase, wenn wir dabei die bitteren Konsequenzen Übergewicht, Knöchelbruch und Kinder, ausblenden. Wenn ich an die reizvollen Momente meines Lebens denke, dann sind es eher die, in denen ich für ein kleines, schnelles Bier in ein Wirtshaus einkehren wollte, um dann vormittags mit dem Kopf auf der Theke von der Putzfrau geweckt zu werden. Deswegen unterwandere ich jetzt immer öfters die Pläne meines grauen Alltags. Gestern stand auf dem Display meines Autonavis, Zielankunft 18:23. Angekommen bin ich ganz bewusst erst um 18:24. Diese 60 Sekunden Anarchie kann ich jedem empfehlen.

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