Fabelhafte Welt: Was macht ein Urologe im Wald?
Weihnachten ist auch das Fest der Dankbarkeit. Zumindest dürfte das jener Jäger gedacht haben, der im Dezember den alten Pick-up meines Opas gekauft hatte und sich bei unserer Familie bedankte, indem er uns eine ganze Wildsau schenkte – zum Selberzerlegen, damit die Männer der Schöpfung ein kleines Weihnachtsprojekt haben. Sind ja schon alle zu alt zum Lego-Bauen.
Tags darauf standen wir rund um den Kombi meines Vaters und betrachteten die Beute im Kofferraum.
Meine Schwägerin leckte sich die Lippen und kündigte an, umgehend ihre Verwandten in China für das Rezept von Rüssel und Füßen des „Waldschweins“, wie sie es nannte, zu kontaktieren. Mein Vater, mein Bruder, mein Mann und unser Hund betrachteten indessen schweigsam ihre Herausforderung. Sie wirkten elektrisiert, aufgeregt, als wecke dieser Anblick Ur-Instinkte in ihnen – nur schien nicht klar welche.
Selfies mit dem toten Tier
Mein Vater war manövrierunfähig, da er nach Jahren am Computer gerade seine erste Karpaltunnelsyndrom-OP gehabt hatte. Mein Millennial-Bruder schnappte sein Smartphone, machte ein paar Selfies mit dem toten Tier, und mein Mann, ein Urologe, beschloss, zunächst des Wildschweins Blase, Prostata und Hoden freizulegen, bis mein Bruder ein taugliches Do-it-yourself-Video für das Häuten und Zerlegen gegoogelt hatte. Der Hund stand im Weg herum.
Als sie es schließlich aus dem Kofferraum hoben, erübrigte sich jedoch der OP-Plan meines Mannes: der Jäger hatte natürlich einen „waidgerechten Aufbruch“ durchgeführt und die Eingeweide im Wald belassen. Eine Weile standen meine Männer daraufhin wieder vor ihrer Beute, ehe sie endlich ihren Instinkten folgten. Sie riefen den Nachbarn, einen Fleischermeister, um Hilfe.
Ich weiß jetzt: In der Wildnis würden meine strahlenden Ritter wahrscheinlich nicht überleben. Aber der Rollbraten schmeckte hervorragend.
vea.kaiser@kurier.at
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