Fabelhafte Welt: Pensionsidee ade
Vea Kaiser über
Pünktlichkeit
Seit ich 2010 in
Zürich lebte, träumte ich davon, einst in dieser Stadt alt zu werden, und als sonnengegerbte, wetterfeste, weißhaarige Zürcherin von März bis November den Zürichsee zu durchpflügen. Der Dottore Amore ist wenig begeistert von dieser Pensions-Idee. Die Schweizer Pünktlichkeit und Ordnung jagen seinen süditalienischen Genen große Angst ein. Er weigerte sich sogar, mich nach Zürich zu begleiten, als ich vergangene Woche dorthin zu einer Schul-Lese-Tour aufbrach. Ich war dennoch voller Vorfreude auf meinen geliebten Zürichsee! Vor dem Badevergnügen führte mein Weg in Marias Waxing-Studio. Maria ist Brasilianerin und ein Musterbeispiel für Schweizer Integration. Als sie in die Schweiz übersiedelte, hatte sie sieben Kilo Wachs für den Eigenbedarf mit, da das Brazilian Waxing, die Haar-Entfernung per Warmwachs, in der Schweiz nicht angeboten wurde. Die Zollbeamten dachten dementsprechend, Maria schmuggle Drogen, woraufhin Maria einem Beamten die Unterschenkel ritsch-ratsch haarfrei harzte. Der Beamte war Hobby-Triathlet und bestaunte freudig die Glätte seiner Haut. Maria kam auf die Idee, ein Geschäft daraus zu machen. Und das mit Erfolg! Ich staunte, wie das Studio seit 2010 gewachsen war und fragte sie, ob es mittlerweile mehr Südamerikaner in Zürich gäbe, denn früher war ich die einzige Kundin ohne Spanisch als Muttersprache gewesen. Maria erklärte mir in perfektem Züri-Dütsch: „Nai! Ich nehme keine Südamerikaner mehr. Die kommen immer zu spät, sagen Termine ab, das mach ich nicht mehr. Ich bin jetzt Schweizerin!“ Ich dachte lange über ihre Worte nach und schlug mir meine Verschweizerungspläne endgültig aus dem Kopf. Ich hab mich in einen unpünktlichen Dottore Amore verliebt. Seine Zeitauffassung macht mich manchmal wahnsinnig. Aber so richtig wahnsinnig würde es mich machen, käme er plötzlich pünktlich.
vea.kaiser@kurier.at
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