Fabelhafte Welt: Memoiren über meine Wiener Drahteselzeit
In den letzten Monaten mied ich öffentliche Verkehrsmittel und trat bei jedem Wetter in die Pedale. Das Fahrrad als tägliches Fortbewegungsmittel und nicht als Sportgerät für gelegentliche Ausflüge oder Ultrakurzstrecken zu begreifen, ist ungewohnt. Ich wuchs schließlich am Land auf, wo beim Fahrradfahren der Weg das Ziel, und nicht, wie zumeist in der Stadt, das Ziel wirklich das Ziel ist.
Die Memoiren über meine Wiener Drahteselzeit würden folgenden Titel tragen: „Von allen überholt.“ Vielleicht bin ich eine Schnecke, vielleicht hatte ich das Pech, immer nur zur Rushhour unterwegs zu sein, vielleicht war ich zu sehr abgelenkt, die Vielfalt der urbanen Radlerschaft zu bewundern.
Zunächst faszinierte mich, dass manch Bierbauch-Bepanzerter trotz Steigungen mit einem solchen Affenzahn vorbeizischte, dass man sich um die Zugluft im Maurerdekolleté sorgte. Oder wie anmutig manch mit integriertem Komfort-Sitzkissen Ausgestattete quasi ohne zu treten an mir vorüberglitt – bis ich das System „E-Bikes“ durchschaute. Daraufhin fand ich doch die todesmutigen Hobby-Stunt-Menschen wie Kuriere oder Essenzusteller interessanter. Dass die es eilig haben, ist verständlich. Aber bei Rot über vielbefahrene Straßen zu fetzen, knapp zwischen Straßenbahnen und LKW hindurch, um abbiegenden Autos die Vorfahrt zu nehmen, ist vielleicht etwas zu viel Einsatz – die zu Beliefernden warten doch bloß auf ihr Mittagessen, nicht auf eine Organspende.
Auch bemerkenswert fand ich die Orientierungslosen, die Gehsteige mit Radwegen verwechseln. Die Effizienten, die mit Kind am Gepäckträger ihr Cardio-Training absolvieren. Und die Ernsthaften, die ausblenden, dass die Ottakringer Bergetappe nicht Teil der Tour de France ist.
Aber wissen Sie, wer mir am liebsten ist? Die langweiligen Schnecken mit einem Herz für die Straßenverkehrsordnung.
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