Fabelhafte Welt: „Bist ang’rennt?“

So besinnlich war die besinnliche Zeit noch nie
Vea Kaiser

Vea Kaiser

Seit Jahren spiele ich frühabends Klavier. Freilich nicht virtuos, aber auch nicht unerträglich. Doch als ich Mitte Oktober in die Tasten griff, hämmerte es an der Tür. Der Nachbar schäumte vor Wut: „Bist ang’rennt?“
Schlagfertigere Menschen hätten an dieser Stelle etwas zu sagen gewusst. Ich Lehrerkind überlegte hingegen, was ich falsch gemacht haben könnte: Parke ich vor seiner Garage? Ist der Hund ausgebüchst? Habe ich den Herd ausgeschalten? Endlich erklärte er sich: „Reicht’s net, dass es seit September Lebkuchen zum Kaufen gibt und Christbaumschmuck? Musst du a nu Jingle Bells spielen? Es is Oktober!!!“
Die drei Ausrufezeichen müssen Sie sich als weit aufgerissene Nachbarsaugen vorstellen. „Sorry!“, sagte ich. Seit ich im Frühherbst eine Weihnachtsgeschichte schreiben sollte, klimperte ich O Tannenbaum oder Baby, it’s cold outside, um mich in Stimmung zu bringen, während draußen Altweibersommer und goldener Blätterzauber herrschten. Dem Nachbar zuliebe wechselte ich daraufhin das Repertoire, doch meine Weihnachtsstimmung blieb.
Die letzten Wochen pflegte ich die Vorfreude als ein verbotenes, und deshalb besonders reizvolles Vergnügen. Verstohlen hamsterte ich Weihnachtssterne und Schokonikoläuse, um sie mit dem heutigen Tag endlich in die Freiheit zu entlassen. Nun jedoch fragen Freunde: „Hat’s dich? Wie kannst Du heuer in Weihnachtsstimmung sein?“
Tja, wie kann ich nur? Heuer gibt’s keinen Geschenke-Shopping-Stress in überfüllten Geschäften, keinen peinlichen Weihnachtsfeier-Rausch, stattdessen viel Zeit und Ruhe, um sich zu Hause an der Deko zu erfreuen, herzerwärmende Geschichten zu lesen oder Kekse zu backen.
Während ich neulich Leise rieselt der Schnee klimperte, hörte ich sogar den Nachbarn dazu singen: Still und starr ruht der See. Und da dachte ich: So besinnlich war die besinnliche Zeit noch nie.

vea.kaiser@kurier.at

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