Fabelhafte Welt: Baldrian, bitte!

Eine Enochlophobikerin auf der Buchmesse. Wie es ist, sich durch Menschen massen zu wuzeln.
Vea Kaiser

Vea Kaiser

Weil ich vor zwei Wochen einen Roman in der Öffentlichkeit ausgewildert habe, irre ich dieser Tage durch die Leipziger Buchmesse. An die 80.000 deutschsprachige Bücher erscheinen pro Jahr, und sie alle wollen dort präsentiert werden. So schön diese Masse an gebundenen Seiten und erzählten Geschichten ist, so schön es ist, dass hunderttausende Menschen herbeiströmen, um sie zu bewundern, so unschön ist es, mich durch die Hallen zu quetschen. Denn ich habe Enochlophobie – Angst vor Menschenmassen. Auf großen Konzerten war ich zuletzt in den Nullerjahren und um die U-Bahn zu meiden, wurde ich zur Allwetter-Fahrradfahrerin. Während mein Tag normalerweise mit drei Espressi beginnt, startet er hier in Leipzig mit drei Löffeln Baldrian-Tropfen und endet abends mit Beruhigungstabletten, um nicht von aneinanderstoßenden Körpern zu träumen. Trotzdem bin ich gerne hier. Denn die Buchbranche muss um das Persönliche kämpfen. Leser werden nicht nur weniger, sie wenden sich auch vermehrt eBooks zu oder bestellen online. All das minimiert den Faktor Mensch in der Vermittlungskette vom Autor zum Leser. Normalerweise müsste man als Enochlophobiker diese Ent-Menschlichung gut finden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Literatur ist seit Anbeginn der Schrift nichts anderes, als der Versuch, das Menschliche vermittels Buchstaben zu erzählen. Und deshalb braucht Literatur Menschen, die ihr in die Welt helfen. Verlage, die ihr zu einer anziehenden Gestaltung verhelfen, und Buchhändler, die die zu den jeweiligen Menschen passenden Bücher zu ihnen bringen. All das kann die anonyme Online-Welt nicht leisten. Und so wuzeln selbst wir Enochlophobiker uns durch die Massen, damit wir auch in der Zukunft das richtige, uns begeisternde Buch, dank dem Einsatz literaturenthusiastischer Menschen, genießen können. Nur halt zuhause, ganz ohne andere Menschen.

vea.kaiser@kurier.at

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