Das falsche Los

Offenbar brauchen wir den Sündenbock. Damals wie heute. Und auch heute entscheidet das Los, wer zum Sündenbock wird.
Niki Glattauer

Niki Glattauer

Ö1-Hörer, die den „Gedanken für den Tag“ des österreichischen Schriftstellers David Weiss zum jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur gelauscht haben, wissen: Der „Sündenbock“ war ursprünglich ein Produkt des Zufalls. Wie im drittem Buch Moses, aus dem Martin Luther den Begriff „Sündenbock“ für seine Bibelübersetzung hergeleitet hat, beschrieben ist, entschied nämlich das Los, welcher von zwei Ziegenböcken in einem jährlichen Ritual als „Sündenbock“ (eigentlich „Sühnebock“) in die Wüste geschickt wurde. David Weiss: „Bei der priesterlichen Zeremonie am Jom Kippur im Jerusalemer Tempel wurden einst einem Ziegenbock symbolisch die Sünden und Vergehen der ganzen Gemeinde aufgeladen. Der Verlierer fand sich nach jeder Menge Verwünschungen und einem Fußtritt in der Wüste wieder, mitsamt der mitgegebenen fremden Fehler, falschen Entscheidungen und jeder Menge schlichtem Pech.“ Offenbar brauchen wir den Sündenbock. Damals wie heute. Ohne ihn würden wir an der Last der eigenen Fehler, falschen Entscheidungen und all des Pechs, das sich über uns ergießt, zu Grunde gehen. Zu unserem eigenen Glück nehmen wir uns das Recht heraus, diese Last anderen umzuhängen. Pech freilich für den Sündenbock, wenn er mehr ist als nur eine symbolische Figur.

Auch heute entscheidet das Los, wer zum Sündenbock wird, leider im anderen Sinn des Wortes. Mobbing nennen wir es in den Schulklassen, wenn Schüler konzertiert beginnen, ihre Unzulänglichkeiten anderen umzuhängen: solchen Buben z. B., die das Los haben, dick, schwach, motorisch ungeschickt zu sein; Mädchen, die nicht mit Modellfigur oder Hunderten Followern im Social Net auftrumpfen können; und immer öfter Mitschülern, die das Pech hatten, von ihren Eltern in Parallelwelten hineingeboren zu werden, scheinbar ohne Kompatibilitätsmodus für die Bedürfnisse und Ansprüche der Mehrheitsgesellschaft – sie alle sind potentielle Sündenböcke, ständig in Gefahr, in die nicht immer nur sprichwörtliche Wüste geschickt zu werden. Und all das, damit wir anderen wieder tief durchatmen können.

So, das war jetzt gar nicht lustig, ich weiß eh, aber manchmal muss Schule ernst.

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