Wenn es uns nicht gäbe, wären auf der Bühne alle nackt
„Darf ich eine Kritik anbringen?“, fragt Anna Pollack im Theater Spielraum in der Wiener Kaiserstraße. „Die Kostüme kommen in deinen Kritiken über Stücke - fast – nie vor. Wenn es uns nicht gäbe, wären ja auf der Bühne alle nackt.“
Und so sei dieses Manko hier einmal ausgeglichen. „Zur schönen Aussicht“ ist ein zu Lebzeiten von Ödön von Horváth (1901 bis 1938) gar nie, überhaupt erst Jahrzehnte später erstmals (1969) und seither auch selten gespieltes Stück, genannt Komödie.Die Kostüme beginnen – wie andere Arbeit an einem Stück auch – mit Recherche, fängt Anna Pollack zu erzählen an. „Ich habe alte Fotos und vor allem Mode- und Schnitt-Zeitschriften aus den 20er Jahren gesucht. Damals haben viele Frauen ja ihr Gewand selbst zu Hause geschneidert. So bekommst du Einblicke in die Kleidung der Epoche.“
Fundgruben
Mit diesen Bildern vor Augen macht sich die Kostümbildnerin dann auf Suche, was in dem Fall insofern nicht ganz einfach war, „weil es Winter war und das Stück ja im Sommer spielt, aber Second-Hand-Läden sind Fundgruben“. Und da gab's in dem Fall DEN Zufallstreffer. „Beim ersten Kostüm, das mir in die Hände fiel, wusste ich, das ist für die Christine.“Damit war mehr als ein Anfang geschafft, „weil mir ist wichtig, dass die Kostüme aller auf der Bühne ein gemeinsames Ganzes ergeben, eine runde Sache sind. Da ist nicht jedes einzelne Kostüme so wichtig, sondern sie müssen insgesamt gut zusammenpassen.“
Sogar bei Hörspielen
Trotzdem ist es dann nicht egal, was jede und jeder anzuziehen kriegt. Das Stück genau und tiefgehend zu lesen ist für sie ganz wichtig, „um die einzelnen Charaktere genau zu kennen, zu wissen, was zu ihnen an Kleidung passt, ihr Wesen unterstützt“, meint die Kostümbildnerin. „Da gibt’s auch Dinge, die das Publikum gar nicht sieht. So hab ich den Spielerinnen und Spielern in ihre Koffer ganz persönliche Gegenstände gegeben. Das ist ein Spleen von mir, aber damit haben die Schauspielerinnen und Schauspieler auch so ihre ganz persönlichen Momente und Elemente.“
Selbst bei Hörspielen, wo niemand die Sprecherinnen und Sprecher sehe, „ist das ganz wichtig, denn es macht oft bei Geräuschen einen Unterschied – in welchen Schuhen du gehst oder wie sich Regen auf deiner Jacke anhört“.Bei der Suche nach den richtigen Kostümen und Gegenständen verfalle sie so richtig in einen Rauschzustand, gesteht Anna Pollack dem Kinder-KURIER
Die Story
Die Grundgeschichte – sehr verkürzt: Christine, eine junge Frau, kommt in ein heruntergekommenes Hotel einer Kleinststadt. Sie war schon vor einem Jahr da. Ihr damaliges Zusammensein mit dem Besitzer, Strasser, ist nicht folgenlos geblieben. Doch ihre Briefe hat der ignoriert. Jetzt hat er Angst vor Alimentationszahlungen. Gemeinsam mit den eher auch heruntergekommenen Typen – Kellner, Chauffeur, Vertreter, Weinhändler – hecken die fünf Männer eine Intrige aus. Sie hätten alle mit ihr Verhältnisse gehabt, weshalb nicht sicher sei, wer Vater des Kindes wäre. Doch siehe da, die junge Frau will gar kein Geld, sie hat überraschend reich geerbt. Plötzlich will jeder der Männer der doch liebende Gefährte und Vater sein. Doch „Christine rettet sich aus dem Milieu, aus der Geldgierigkeit und -schmierigkeit der Männer mit dem Frühzug um 5 Uhr 07. Sie ist die erste und die letzte der Horváthschen Frauen, der die Emanzipation gelingt“, schrieb Dieter Hildebrandt in seinem Buch über Ödön von Horváth (1975, rororo)
Die Darsteller_innen
Veronika Petrović spielt die Christine sehr überzeugend dezent. Die Männer geben ihre Rollen als Kellner Max (Max Kolodej), Chauffeur Karl, der gern viel mehr wäre (Mario Klein), geschäftiger Weinhändler Müller (Gunther Matzka), sich rausreden wollender Hotelbesitzer Strasser (Max Konrad) und Emanuel Freiherrr von Stetten (Raimund RRemi Brandner) wie gediegene Puzzleteile eines patriarchalen Gesamtkomplotts. Letzterer spielt übrigens den Zwillingsbruder der einzigen Hotelgästin, der Baronin Ada Freifrau von Stetten. Diese - angesiedelt zwischen abgehoben, ihren Abstieg nicht realisierend, häufig leicht bis stark illuminiert und leicht verrückt als Anklang an die wilden 20er Jahre – wird sehr stark verkörpert von Brigitte West.Übrigens: Adas Spruch „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“, stand angeblich Pate für den Song von Udo Lindenberg und Jan Delay: „Ganz anders“ (Text: Jan Eißfeldt; Musik: Andreas Herbig, Henrik Menzel): Eigentlich bin ich ganz anders/ich komm' nur viel zu selten dazu/Du machst hier grad' mit einem Bekanntschaft/den ich genauso wenig kenne wie du.
Teamarbeit
Die meisten Darsteller_innen hatten davor nie zusammengespielt, aber gemeinsam mit Regisseur – und Co-Prinzipal des Hauses – Gerhard Werdeker Wesen und Ton des Horváthschen bitterbösen satirischen Spiels um Macht und Geld und nebenbei auch Liebe zwischen diesen gut getroffen. Dass nichts von den jeweils in den Proben Erarbeiteten verloren gegangen ist, verdankt das Ensemble der Regie-Assistentin Magdalena Marszalkowska.Mit wenigen Mitteln hat Dimiter Ovtcharov eine Bühne gebaut, die den vergangenen Charme des heruntergekommenen Hotels zeigt und als speziellen Gag die Bilderrahmen schräg gehängt und leer gelassen. Und doch sieht wahrscheinlich jede und jeder im Publikum die wahrscheinlich 08/15-Landschaftsgemälde ;) Für die richtige Beleuchtung sorgte Tom Barcal.
Rundum-Hintergrund-Informationen
Wie zu jedem der Stücke im Spielraum, die fast alle auf literarisch-politische Texte aufbauen, gibt es umfassende Rundum- und Hintergrundinformationen in einem sehr informativen Programmheft. So ist hier zu erfahren, dass sich Horváth für „Zur schönen Aussicht“ viele Anregungen aus realen „Vorbildern“ in Murnau (Bayern), wo die Familie mehrere Jahre lebte, geholt hat. Auch das obige Zitat von Dieter Hidlebrandt ist dem Programmheft entnommen. Diesmal sorgte die Co-Prinzipalin, Nicole Metzger, für das Heft.
Zur schönen Aussicht
von Ödön von Horváth
Eigenproduktion; 1 ½ Stunden
Regie: Gerhard Werdeker
Christine: Veronika Petrović
Ada Freifrau von Stetten: Brigitte West
Emanuel Freiherrr von Stetten, ihr Zwillingsbruder: Raimund RRemi Brandner
Karl, Chauffeur: Mario Klein
(Kellner) Max: Max Kolodej
Strasser, Hotelbesitzer: Max Konrad
Müller, Weinhändler: Gunter Matzka
Assistenz: Magdalena Marszalkowska
Bühne: Dimiter Ovtcharov/Harald Ruppert
Kostüm: Anna Pollack
Licht: Tom Barcal
Wann & wo?
Bis 1. Februar 2020
Theater Spielraum: 1070, Kaiserstraße 46
Telefon: (01) 713 04 60
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