Wenn Burgen die Insaßen selber einsperren
„Wovor fürchte ich mich mehr: Freiheit oder Sicherheit?“ Das ist nicht die Losung auf einem Demonstrations-Transparent. Die Frage findet sich verpackt in einem Glückskeks. Keines, das es handelsüblich zu kaufen gibt. Das Glückskeks schon. Aber nicht den zitierten Spruch auf schmalem Papierstreifen. Ein paar Dutzend solcher bekannter Glückskekse hat eine der vier Finalgruppen des diesjährigen Nachwuchsbewerbs im Theater Drachengasse vorsichtigst mit Fragen statt der üblichen horsokopartigen Allerweltsweisheiten befüllt und die Verpackung neu zugeklebt.
Zuvor hatten sie Hunderte der harten Weizengebäcke in ihren Verpackungsfolien aus Rucksäcken auf der Bühne aus ihren Rucksäcken geleert. Den Rucksäcken gaben sie die Bezeichnung INCH, als Abkürzung für I’m Never Coming Home. Das Niemals-Nach-Hause-Kommen des Quartetts Annina Hunziker, Moritz Ilmer, Rachel Müller und Wiebke M. Yervis steht in ihrer 20-minütigen Szenen-Skizze eher für ein nie irgendwo zu Hause (gewesen) sein. Seit zwei Jahren treffen sie einander wöchentlich um zu besprechen und übern, was sie in ihre „Überlebensrucksäcke“ einpacken sollen/können/müssen - eine „Selbsthilfegruppe für die Apokalypse“, wie sie’s einmal auf den Punkt bringen. Ihr Zuhause sind diese Rucksäcke.
(Selbst-)ironischer Grundtenor
So tragisch das klingen mag, die vier performen ihren Stückentwurf „INCH Bag unisex S50x35– I‘m never coming home“ genauso wie auch die drei anderen Gruppen mit (Selbst-)Ironie und satirischem Grundtenor. (Sie Buchstaben-Zahlenkombination ist ein reiner Gag und keine Größenangabe, gesteht die Gruppe dem Reporter.) Zum 12. Mal hat dieses kleine innerstädtische, engagierte Theater - in Kooperation mit der Stadt Wien - einen Nachwuchsbewerb ausgeschrieben. Thema des diesjährigen Bewerbs: „My home is my castle“.
Die vier besten aus 53 Projekten
187 Theatermacher_innen hatten 53 Projekte eingereicht. Vier Projekte wurden zur weiteren Bearbeitung ausgewählt, die jeweils 20-minütige Szenen - als Stückentwürfe - bis Mitte Juni im Theater - alle vier an jedem Abend - spielen. Am letzten Spieltag, dem 15. Juni, werden nach der Vorstellung die zwei Sieger_innenprojekte des Wettbewerbs bekannt gegeben, die über Publikumsabstimmung und Juryentscheid ermittelt werden.
Die Gewinner_innen des Publikumspreises erhalten 1.000 Euro. Der Jurypreis ist mit 5.000 Euro dotiert und wird von der Kulturabteilung der Stadt Wien zur Verfügung gestellt, um das gekürte Sieger_innenprojekt für die Aufführung in der folgenden Saison weiter auszuarbeiten. Die Jury besteht heuer aus Cornelia Anhaus (WERK X-Petersplatz), Kolja Burgschuld (Kuratorium der Stadt Wien) und Anne Wiederhold (Brunnenpassage).
Widerspruch in sich
Das Bewerbsmotto vom Heim, das gleichzeitig burgartiges Schloss ist und einerseits Biedermeierlichkeit und andererseits Festung mittransportiert, setzt das Projekt „Lebensmenschen“ wie eine Art Widerspruch in sich um. In einem Ambiente à la kleinbürgerlicher Idylle versuchen sich zwei Alternative einzunisten. Eine urösterreichische schwarze Frau und ein schwuler Yugo-Mann leben zweisam zusammen. Trotz ihres doch so diversen Hintergrundes mitunter von „vertrauten“ Vorurteilen behaftet, wissen sie einerseits: Kleinfamilien-Idyll ist nicht ihres. Allerdings scheint es ein unausgesprochenes Agreement zu geben, dass sie von ihm ein Kind will. Dem vordergründig alternativen Setting setzen sie bekannte vorwurfsvolle Beziehungsmuster entgegen: „Du liebst es zu leiden!“ „So kannst du leichter aufgeben!“... (Stückentwicklung: Kira Lorenza Althaler, Markus Bernhard Börger, Dino Pešut, Shahrzad Rahmani, Isabella Sedlak.)
Einsam in der Zweisamkeit...
... spiegelte sich schon im zuvor beschriebenen Kurzstück. Im dritten szenischen Entwurf des Abends wird sie mit dem Stücktitel sogar zu einer neuen Wortkreation: „Zweinsamkeit“. Maximilian Friedel und Marzella Ruegge scheinen in einem Nirgendwo sich (n)irgendwie zu fühlen. Einerseits zelebrieren sie Nichts, Leere, Langeweile, andererseits doch den Kampf um den Platz, den sie vermeinen, dass er ihnen zusteht. Letzteres besonders amüsant und kreativ als im Stehen “Schlafende“ entlang der hinteren Bühnenwand.
Das Heimspiel der Begonien
Die übergroße Mutter im Bild - mit den beiden damaligen sehr jungen Kindern - dominiert von der Rückwand der Bühne als Art Überwachungskamera die scheinbare traute geschwisterliche Idylle von Grete und Gregor. Wie in ein Schneckenhaus zurückgezogen versuchen sie zu vermitteln, sie würden einander genügen, weswegen sie gaaaanz lieb zueinander sein müssten. Und in jeder Sekunde lassen Alice Peterhans und Bettina Schwarz in ihrem Spiel spüren, alles erlogene Fassade. Die beim kleinsten Konflikt nicht nur Sprünge zu bekommen droht, sondern gleich das ganze Gebäude zum Einsturz bringen könnte.
Immer wieder treten die beiden aus ihren Rollen heraus, um ihre Figuren sozusagen zu beobachten oder auch in Frage zu stellen. Und trotz des tragischen Ernstes in der grotesken Situation Lachen Raum zu geben.
Infos: Was? Wer? Wann? Wo?
12. Nachwuchswettbewerb 2019: My home is my castle
Theater Drachengasse, Bar&Co in Kooperation mit der Kulturabteilung der Stadt Wien
Finalist_innen
INCH Bag unisex S50x35 – I‘m never coming home
Annina Hunziker, Moritz Ilmer, Rachel Müller, Wiebke M. Yervis
Lebensmenschen
Kira Lorenza Althaler, Markus Bernhard Börger, Dino Pešut, Shahrzad Rahmani, Isabella Sedlak
Zweinsamkeit
Maximilian Friedel, Marzella Ruegge
Das Heimspiel der Begonien
Anna Kramer, Alice Peterhans, Silvia Schmidt, Bettina Schwarz, Stephanie Schreiter
Die Bekanntgabe der Gewinner_innen erfolgt nach der Vorstellung am 15. Juni 2019.
Wann & wo?
Bis 15. Juni 2019 (Di – Sa)
Theater Drachengasse, Bar&Co: 1010, Drachengasse 2
Telefon: (01) 513 14 44
www.drachengasse.at
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