Vier Schülerinnen organisieren Erinnerung an Vertreibung
Am Donnerstag dem 12. März 2020 wird Wiens Bürgermeister Michael Ludwig vor der Schule, die er als Jugendlicher besucht hat, eine der kleinen, goldglänzenden, in den Boden eingelassenen Gedenktafeln, genannt Stolpersteine, enthüllen. Zum Gedenken daran, dass 82 Jahre davor für viele Schüler hier das Ende ihrer Ausbildung, viel zu oft auch das Ende ihres Lebens begonnen hat.
Aus der Schule geschmissen
Mit dem 12. März 1938, die oft verschämt „Anschluss“ genannten Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland, der viel zu viele Österreicher_innen jubelnd zustimmten, verstärkte sich die Verfolgung vor allem jüdischer Bürger_innen. Kinder und Jugendliche mussten oft nun mitten im Schuljahr 1937/38 ihre Mitschüler_innen und Klassen verlassen, wurden in Sammelklassen gesteckt. Oder ihre Eltern schafften (noch) rechtzeitig, die Flucht der ganzen Familie ins Ausland zu organisieren. Oder und das traf noch mehr, sie wurden eingesperrt, abtransportiert und später vernichtet.
Diplomprojekt
Wie war das konkret in der Handelsakademie auf dem Hamerlingplatz (VBS/Vienna Business School, Wien-Josefstadt)? Das machten vier Schülerinnen zu ihrem Diplomprojekt: Sabrina Gaal, Rebecca Campa, Maya Naydenov und Theresa Galavics fanden allesamt, dass Geschichte in der Schule mit Wirtschaftsschwerpunkt doch ein wenig zu kurz kommt und hatten viel Bock darauf, mehr über die doch noch gar nicht so lang zurückliegende österreichische Geschichte zu erfahren – noch dazu jene rund um die eigene Schule.
800 Stunden Digitalisierung
Wichtigste Recherche-Quelle waren die Jahreskataloge ab dem Schuljahr 1936/37. In einem kleinen, engen Kammerl knapp unter dem Dach fanden die vier Schülerinnen die dicken, schweren Bücher, in die alle Schüler – damals (und auch noch Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg) eine reine Bubenschule, eingetragen waren. Von den 557 Burschen des Schuljahres 1937/38 waren zu Beginn 72 mit jüdischem Glaubensbekenntnis verzeichnet. Im Schuljahr danach nur mehr einer.
Keine Spuren zu Überlebenden
Trotz enger Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) sowie der Recherche im Adressverzeichnis Lehmann, der Kooperation mit der Kultusgemeinde und der Arbeit mit der Online-Datenbank des in Israel beheimateten Holocaust-Gedenkzentrums Yad Vashem konnten keine Überlebenden aus der damaligen Schulzeit ausgeforscht werden.
Living Books
Die vier Schülerinnen, die im Rahmen ihres Diplomprojekts in ihrem Ausbildungsschwerpunkt Eventmanagement auch eine Veranstaltung organisieren sollten, wollten dabei aber nicht nur die harten Fakten präsentieren. Auch wenn es nicht gelungen ist, überlebende ehemalige Schüler aufzutreiben, sollten ihre Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit bekommen, mit Zeitzeuginnen und –zeugen der historischen Ereignisse zu sprechen. Sie selbst hatten sich sogar für die Recherche Hilfe bei Bewohner_innen der am selben Platz angesiedelten Senior_innen-Residenz geholt. „Die haben uns nicht nur aus ihrer Jugend erzählt, sondern auch geholfen, die Kurrentschrift, in der die Kataloge ja geschrieben waren, zu entziffern.“
Die vier Schüler_innen haben sämtliche 32 Kataloge zwischen 1936 und 1945 digitalisiert – „allein das hat ungefähr 80 Arbeitsstunden in Anspruch genommen“, schildern Gaal, Campo, Naydenov und Galavics dem Kinder-KURIER ungefähr eine Woche vor der Veranstaltung.
Zwölf "lebende Bücher"
Zwölf ältere Menschen, darunter Margit Fischer, die seit Jahrzehnten im achten Bezirk wohnt, deren Eltern flüchten mussten und die im Exil in der schwedischen Hauptstadt Stockholm geboren wurde, sowie u.a. Bewohner_innen der Senioren-Residenz am selben Platz werden am Tag der Veranstaltung als „living books“ zur Verfügung stehen. Schülerinnen und Schüler können sich diese „lebendigen Bücher“ ausborgen und Geschichte(n) erzählen lassen und natürlich auch Fragen stellen.
Neben Margit Fischer kommen als „Bücher“ die Autorinnen Margarete Affenzeller und Gabriele Anderl, Ursula Stern (Initiatorin „Servitengasse 1938“), Helen Rupertsberger-Knopp (Erstellerin der Ausstellung „Jüdische Josefstadt“ im Bezirksmuseum), Anisa Hasanhodžić (Holocaust- und Genozid-Studien) sowie aus der Senior_innen-Residenz Frau Studenik-Horak, Herr Knell, Frau Höfer, Frau Kanfer, Familie Salmang, Herr Schlüter-Padberg und Frau Lehmann.
Recherche-Workshop
In einem anderen Workshop, den die vier vorbereitet haben, können Jugendliche der VBS Hamerlingplatz ansatzweise in die Recherchearbeit ihrer Kolleginnen reinschnuppern – indem sie über digitalisierte alte Lehmann-Kataloge die Geschichte der Besitzer_innen des einen oder anderen Hauses der Schulumgebung erkunden. Dabei werden sie von der ehemaligen Parlamentsabgeordneten Irmtraut Karlsson vom Verein „Steine der Erinnerung Josefstadt“ unterstützt.
Bilder gemalt
Es wird aber nicht nur der „Stolperstein“ vor der Schule enthüllt, sondern auch eine Ausstellung von Bildern eröffnet. Diese Gemälde wurden von Jugendlichen einer vierten Klasse geschaffen – in einem Workshop mit der Künstlerin Liliana Naydenov, Mutter der Schülerin Maya. „Wir haben einen Workshop für diese Klasse organisiert, weil wir in unserem Schultyp ja gar keinen Kunstunterricht haben.“ Zuvor haben wir der Klasse über unser Projekt erzählt, die Schülerinnen und Schüler haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und dann im Workshop mit der Künstlerin gearbeitet. Diese Bilder wollen wir allen in der Schule zeigen.“
Eine weitere Klasse hat sich mit Bräuchen, Kultur, Festen, Essen usw. im Judentum beschäftigt und dazu Plakate gestaltet – die ebenfalls – zumindest – am Veranstaltungstag vorgestellt werden.
Insgesamt werden rund 80 bis 100 Jugendliche der Schule am 12. März Teil der Veranstaltung sein.
Hoffnung
Die intensive geschichtliche Arbeit gewährte den vier baldigen Maturantinnen aber nicht nur historische Einblicke, sie macht sie auch hoffnungsfroh, dass aus der Geschichte gelernt wurde/wird. Trotz Sorge und Skepsis angesichts zunehmender Polarisierungen in der Gesellschaft und Hass auf einzelnen (minderheiten-)Gruppen meinen sie „es gibt so viel Sensibilisierung, dass niemand will, dass sich so Schreckliches wiederholt“. Außerdem orten sie im Fehlen von Hunger und Massenarbeitslosigkeit bei uns heute, „dass es diese Voraussetzungen auch nicht mehr gibt“. Dennoch blicken sie über den Tellerrand Österreichs und auch Europas und nennen etwa die Verfolgung von Uiguren in China oder der Rohingya in Myanmar. Aber – fast im Chor – meinen sie zu viert: „Man darf doch die Hoffnung nicht verlieren“ und blicken optimistisch in die Zukunft, dass aus der Geschichte gelernt würde. Zumindest haben sie einen Beitrag dazu geleistet.
Dokumentationsarchiv des Österr. Widerstandes
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