In einem fernen Land

Hannah Oppolzer, Siegerin des diesjährigen Texte-wien-Bewerbs
Der Text der Siegerin des Bewerbs 2019, Hannah Oppolzer.

I.

Wie ich es mir in Sibirien vorstelle / dort oben im Norden zwischen Wölfen und Pelzen aus Wölfen, in der Taiga, ihren Birken, Fichten, Lärchen und Zedern, wo es still ist, ewig still / die stillerstickte Einsamkeit. So stelle ich es mir in Sibirien vor, irgendwo, wo es gar nichts gibt, nur nordische Nächte, die niemals im Morgengrauen münden, die Tage aufgefächert wie die Nächte, gleich und verblichen, ohne Kontur. Ich wollte eigentlich am Montag in die Stadt fahren, aber ich bin nicht aufgestanden, dann eben Dienstag, da bin ich dann auch den ganzen Tag im Pyjama geblieben und habe wieder nicht in die Stadt fahren können, dabei gäbe es so viele Dinge zu besorgen. In der Wohnung wird das Fenster dann zum Fernseher: Wolken fliegen und Vögel ziehen vorbei, Eis bricht vom Himmel, Schnee klebt an der Scheibe / oder umgekehrt.

II.

In den Büchern schreiben sie, Sibirien bedeute schlafendes Land oder Land der Morgenröte, ein altes Wort einer alten Sprache, die sich in die Gesichter der Menschen eingekerbt und Furchen in harte Haut gezeichnet und das darunterliegende Gewebe gegerbt – bis sie unter den sich abrundend abwärts gebogenen Wangenknochen in die Mundwinkel überläuft, ihr Klang an den Zähnen schleift; – eine alte Sprache, die ihre Sprecher geformt hat / nicht umgekehrt, die Rentierzüchter, mit ihren Jurten und Schlitten und Pferden, die sie häuten, woraus sie dann wiederrum die Jurten machen, ein Kreislauf, der nachvollziehbar ist / gut und einfach. Wenn nicht das Fenster, sondern der schwarze Bildschirm im Wohnzimmer zum Fernseher wird, dann versuche ich die Bilder und Stimmen auch auf diese Weise zu erfassen, aber es gelingt mir nicht, da ist alles verhakt und verstrickt, nicht so wie in Sibirien, da ist alles wie es immer war, obwohl ich gehört habe, dass sogar die Rentierzüchter in den Jurten schon Fernseher haben. An den Tagen, an denen ich dann nicht aufstehe, obwohl ich in die Stadt fahren müsste, beschäftige ich mich mit dem Fernseher, aber ich kann ihn doch nicht verstehen / nicht so wie ich das Bauen einer sibirischen Jurte verstehen kann.

III.

Irgendwann fahre ich dann mit der Eisenbahn, diese Narbe durch das Weiß / und ich denke mir, wenn ich dann aussteige, bieten mir Marktfrauen mit schwarzen Kopftüchern und langen Kleidern gefrorenes Fleisch an – luftgefrorenes Fleisch, da braucht man keine Tiefkühltruhe, wie die bei mir in der Küche, da hole ich dann die Pizza raus, die ich in den Ofen gebe, wenn ich Hunger bekomme. Und wenn ich dann wieder in den Zug einsteige, dann bringt er mich vielleicht bis ans Ende der Welt, irgendwo hinter die sibirischen Gebirge / wo die Wölfe leben, die wir aus den Städten vertrieben haben.

IV.

Und nachts, wenn ich nicht schlafen kann, weil der Körper sich windet wie ein Schlangenleib über matratzenuntergründigem Morast und, weil die Druckflächen den ganzen Tag über dieselben sind, im Sitzen und Liegen und so fort, schmerzt, und ich auch nicht lesen kann, weil die Augen müde sind vom Fernsehen, dann schaue ich mir die Fotos an, die in dem staubgepressten Album, das im Schrank bei den Büchern steht und bei dem sich die Seiten schon aus den Ringen lösen. Da sind dann der Reihe nach die Bilder eingeklebt, der Zug, die Kopftücher, das Fleisch, die Fichten, Lärchen, Birken und Zedern, die Hinteransicht eines Bären, Dörfer im Schnee, der See natürlich, der große See, dieses blaue Meer, wie man dazu sagt / auf einigen Bildern bin auch ich zu sehen, in langem Kleid mit Pelzmütze, weil es so kalt ist und die Russen die einzigen Menschen sind, die wissen, wie man sich warm anzieht. Mein Finger streift dann über die vergilbten Abzüge und ich nehme einen aus den Fotoecken und drehe ihn um und da steht ein Datum, fast schon unleserlich. Manchmal blicke ich dann auf und sehe den Tisch vor mir mit den Reiseberichten und den Büchern und den Alben / der Fernbedienung und dem Pizzastück von gestern, auf dem sich die Salamischeibe schon kräuselt – und ganz selten erinnere ich mich daran, dass ich das war, damals in Sibirien, dass es auch schöne Zeiten gab, in denen ich mir die Erinnerungen nicht in Büchern erlesen musste, in pizzafettgeschwängertem Dunst / früher einmal / als ich in den Zug gestiegen und bis nach Wladiwostok gefahren bin, denn so heißt er doch, der Ort, an dem die Eisenbahn endet und wo überhaupt die ganze Welt endet, irgendwo in einem fernen Land…

Hannah Oppolzer
Uni Wien, Germanistik und Philosophie

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Siegerin Hannah Oppolzer (rechts) mit Petra Morzé und Cornelius Obonya (beide vom Burgtheater)

Aus der Jury-Begründung

In dem Text, der die Jury heuer am meisten überzeugt hat, geht es um ein Paradies. Ein ödes, kaltes, befremdliches Paradies - man fragt sich, ob es tatsächlich erstrebenswert ist, dorthin zu gelangen, an dieses Ende der Welt. Doch je mehr uns der Protagonist über diesen Ort erzählt umso mehr verstehen wir, können die Sehnsucht förmlich spüren. Das nostalgische Verlangen nach "stillerstickter Einsamkeit" nimmt uns in ein fernes Land mit, welches sich mystisch und doch perfekt in seiner Einfachheit offenbart.

Grell stoßen sich die malerischen Erinnerungen mit dem Alltag des Protagonisten. Fernsehsender wirken fremder und verwirrender als Jurten. Er träumt von der Reise ans Ende der Welt, doch für etwas so Simples, wie eine Fahrt in die Stadt reicht die Energie nicht.

(…)

Langsam fragt man sich, ob die Kälte des ersehnten Landes nicht vielleicht gerade deswegen immer einladender erscheint, weil sie sich von der lauten Landschaft um den Protagonisten abgrenzt und seine innere Landschaft stattdessen spiegelt. Das Gefühl der Zeit nicht folgen zu können, und der Wunsch sich in ein einfacheres, ein "schlafendes Land", flüchten zu wollen, stimmen nachdenklich.

Durch gekonnten Einsatz von Sprache, malt der Text eine Stimmung. Er packt seine Leser*innen auf sanfte, melancholische Wiese, nimmt sie mit auf eine Reise in ein fernes Land und durch die Gedanken und Gefühle des Protagonisten, bittet uns zuzuhören. Wer hier erzählt, sieht etwas, das nicht jeder, sieht und vermag es auf fesselnd sanfte Wiese so zu erklären, dass jeder versteht.

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