Auszüge aus dem Text der 2.-Platzierten

Julia Lückl
Julia Lückl: Wortflut

Das Wasser steigt. Bis zum Hals steigt es. Nur gesehen habe ich es noch nicht, nur davon gelesen. Man liest ja täglich, soll die Wahrheit kennen, den Überblick behalten. Den Weitblick behalten. Also lese ich jeden Tag. Sehe die schwarzen Lettern auf dem weißen Papier. Das Wasser steigt, steht da. Jeden Tag. Das Wasser steigt immer höher.

Ich habe dann an die Redaktion geschrieben, in schwarzen Lettern, mit vielen Fragezeichen. Habe geschrieben, dass ich es nicht sehen kann, das Wasser. Habe gefragt, ob sie sicher sind. Antwort habe ich keine bekommen. Nur noch mehr Schlagzeilen. Jeden Tag. Jeden Tag eine neue Schlagzeile.

Gesehen habe ich es trotzdem nicht.

Man muss mit Weitblick handeln, steht da. Mit Weitblick das Wasser bekämpfen.

Deshalb habe ich angefangen zu bauen. Mit den Schlagzeilen zu bauen. Ich bin fleißig, mache keine Pausen, nie mache ich Pausen. Sie müssen doch fertigwerden, die Mauern. Was soll sonst werden, wenn ich so ganz alleine dastehe, ungeschützt? Ungeschützt, das habe ich gelesen, schwarz auf weiß habe ich das gelesen. In riesigen Lettern stand es da. Kein Schutz. Die Dämme halten nicht mehr. Aber das Wasser steigt weiter, steht schon bis zum Hals. Auch wenn ich es nicht sehen, nur spüren kann. Ja, spüren kann ich es schon. Also baue ich jetzt selbst. Einen Schutzwall. Meinen Schutzwall aus den Schlagzeilen.

Es war dann ganz dunkel, stockfinster, dort drinnen in meinen vier Mauern aus Schlagzeilen. Ich saß dort allein, sitze dort allein. Zwischen den Wortfetzen. In meiner eigenen Welt. Eingemauert. Gerettet. Auch die Schlagzeilen, die ich noch hören kann, wie sie leise wimmern. Nicht Weltschmerz nennt man das, Wortschmerz nennt man das.

Wenn ich ihnen zuhöre, dann denke ich an das Wasser. Das da draußen sein muss. Auch wenn ich jetzt hier drinnen bin. Sage mir, dass alles gut ist. Dass nichts passieren kann, nicht hier, in meinen vier Mauern, meiner schönen, neuen Welt. Dann sage ich mir, dass ich stolz bin, stolz und zufrieden. Denke an den Weitblick, den man beim Lesen gewinnt. Ja, an den Weitblick. Nur manchmal frage ich mich, was wohl aus dem Draußen wird, was wohl dort draußen passiert. Aber das nur ganz selten.

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