45 Jahre in einer Einrichtung - Wie es war und wie jetzt ist

Autorin,Gebärdendolmetscherin und Schauspielerin, die den Text - mit ihrem Kollegen - vortrug
Gewinnerin des Literatrupreises "Ohrenschmaus" 2019, Cornelia Pfeiffer.

Verantwortung

Geld:

Früher musste ich mir das Geld von den Betreuerinnen bzw. Schwestern holen.

Jetzt habe ich ein Konto und kann über mein Geld, das ich verdiene, selbst verfügen.

Ich habe die Verantwortung, mir das Geld einzuteilen.

 

Gesunde/Ungesunde Lebensweise

Es wird schon darauf geschaut, dass ich so gesund wie möglich lebe.

Einmal in der Woche ist Training und auch Abwaage. Begründung: Ich bin schon älter und da ist es schwierig, Muskeln aufzubauen und Gewicht zu verlieren.

Ich bestimme aber selber, wann ich mich gesund ernähre und wann ich etwas Ungesundes esse und trinke.

Ich bestimme auch selbst, wann und wie oft ich außer dem Training Bewegung bzw. Sport mache.

Ich bestimme auch selbst, wann ich Alkohol trinke.

Ich bestimme auch selbst, ob ich rauche.

Ich trage die Verantwortung für meine Gesundheit.

 

Hygiene und Sauberkeit

Einmal im Monat haben wir Wohnungskontrolle. Diesen Tag müssen wir einhalten und wenn es wirklich nicht geht, einen anderen Tag in dieser Woche festlegen.

Sonst bestimme ich selbst über meine Wohnung, wie ich sie sauber halte.

Auch über meine Kleidung bestimme ich selbst.

Jede von uns hat einen Waschtag und ich habe die Verantwortung, meine Wäsche zu waschen.

Ich bestimme auch selbst, wann ich mich pflege (Duschen, Haare waschen, Zähne putzen etc.)

Früher hat es keine Duschen gegeben.

Es hat 2 Bade-Räume mit einer Badewanne gegeben, außerdem eine Bade-Einteilung.

Sonst hat es nur große Waschräume mit mehreren Waschbecken gegeben.

Das Waschen (vor allem das Ausziehen) vor allen anderen war mir unangenehm.

Jemanden einladen

Früher hat es so etwas nicht gegeben.

Entweder man hat Besuch bekommen oder man ist heimgefahren.

Da hat es auch Heimfahr-Wochenenden gegeben.

Jetzt kann ich selbst bestimmen, wann ich jemanden einlade und wen ich einlade.

 

Einrichtung verlassen

Früher habe ich mich immer abmelden müssen, wenn ich die Einrichtung verlassen habe.

Ich habe sogar fragen müssen, ob ich einkaufen gehen darf.

Unser Tag zum Einkaufen war der Samstag.

Jetzt kann ich selbst bestimmen, wann ich die Einrichtung verlasse.

Und ich muss nicht mehr fragen. Ich bin selbst dafür verantwortlich.

Ich kann auch selbst bestimmen,wann ich zurückkomme zum Beispiel, ob ich nach der Arbeit gleich heimkomme oder ob ich später heimkomme, weil ich noch einkaufen gehe.

Nur, wenn ich allein auf Urlaub fahre, muss die Einrichtung Bescheid wissen, wann ich wegfahre und wann ich zurückkomme. Zum Beispiel: Im Sommerurlaub oder zu Weihnachten.

 

Rückzug

Früher hat es für mich keine Rückzugs-Möglichkeiten gegeben. Ich habe mein Schlafzimmer mit mehreren Mädchen geteilt.

Das Schlafzimmer war nur zum Schlafen da und auch zum Aufräumen.

Hat man sich sonst im Schlafzimmer aufgehalten, ist man in den Tagraum hinübergeschickt worden.

Der Tagraum war ein großer Aufenthaltsraum.

Wenn das Wetter schön war,  habe ich mich draußen aufhalten können.

Rückzugsmöglichkeit war das nicht wirklich.

Jetzt habe ich meine Wohnung. Wenn ich allein sein möchte oder wenn ich nicht gestört werden möchte, sperre ich die Tür zu.

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Cornelia Pfeiffer gewann mit einer recht langen, ausführlichen Schilderung, wie sich Leben in einer Einrichtung im Laufe der Jahrzehnte veränderte ...

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45 Jahre in einer Einrichtung  - Wie es war und wie jetzt ist

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...  wozu ihr Juror Ludwig Laher gratulierte ...

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... und davon in der Begründung sprach, wie beglückend es sei, ...

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... zu erfahren, dass sich doch vieles zum Guten verändert habe ...

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Ehrung der Autorin ...

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Wahlmöglichkeiten

Begleitung/Betreuung:

Früher waren die Betreuerinnen, die neu gekommen sind,einfach da. Wir Kundinnen haben nicht mitreden und auch nicht wählen können.

Meistens war ich mit den Betreuerinnen zufrieden, aber mit manchen bin ich nicht gut ausgekommen.

Noch früher hatten wir Schwestern und da hat es in keiner Hinsicht

Wahlmöglichkeiten gegeben. Wenn jetzt neue Begleiterinnen kommen, die stellen sich vor und verbringen ein paar Stunden mit uns.

Wir dürfen dann sagen, wen wir uns als Begleiterin vorstellen können.

 

Urlaub

Gemeinsamen Urlaub hat es früher nie gegeben.

Da sind alle heimgefahren zu den Eltern oder zu den Verwandten.

Seit es unsere teilbetreute Wohngruppe gibt, haben wir auch Gruppen-Urlaube.

Jede darf mitbestimmen, wo wir hinfahren.

 

Sport und Freizeit-Aktivitäten

Früher hat es gar keine Wahlmöglichkeiten gegeben, was Sport und Freizeit-Aktivitäten betrifft.

Es hat nur gemeinsame Spaziergänge und  Ausflüge gegeben.

Allein spazieren gehen oder Kaffeehaus-Besuch hat es nicht gegeben.

Sonst haben wir uns im Tagraum aufgehalten und wenn es schön war, auch mal im Garten.

Später ist es aber besser geworden.

Da habe ich auch allein mit meiner Freundin spazieren gehen dürfen.

Jetzt sind wir in einer teilbetreuten Wohngruppe.

Wir können vieles alleine unternehmen. Wir können spazieren gehen, Ausflüge machen

Zum Beispiel auf den Pöstlingberg fahren und auch in ein Kaffeehaus gehen.

Wir können auch schwimmen gehen. Einmal haben wir gemeinsam Trainingsstunde.

Wir fahren auch einmal im Monat zum Kegeln. Und wir haben einen gemeinsamen Spielabend

und einen gemeinsamen Filmabend. Jede darf mitbestimmen, was wir spielen.

Jede darf mitbestimmen,  welchen Film wir uns anschauen. Das ist aber alles freiwillig.

 

Ernährung

Mittags gibt es in St. Elisabeth beim Essen 3 Menüs zur Auswahl.

Mich betrifft das jetzt nicht mehr. Ich kann beim Essen auch wählen.

Zum Frühstück, zum Abendessen und zum Wochenende kann ich auch essen und trinken, was ich möchte. Ich kann wählen,  ob ich mich gesund oder ungesund ernähre.

Das war früher nicht so. Früher hat es mittags nur 1 Menü gegeben. Das hat man essen müssen,

ob es nun geschmeckt hat oder nicht. Wenn ich etwas nicht gegessen habe,

so habe ich auch nichts anderes bekommen.

Zum Beispiel: Mir hat die Suppe nicht geschmeckt. Ich habe sie nicht gegessen.

Darum habe ich auch die Hauptspeise nicht bekommen.

Das heißt: Ich habe vom Frühstück bis zum Abendessen nichts zum Essen gehabt.

Ich bin auch gezwungen worden, etwas zu essen, was mir nicht geschmeckt hat.

Zum Beispiel: Ein Brot,  dick mit Butter bestrichen oder Milchnudeln (Nudeln in Milch).

 

Essen (Wo und Wann)

Früher hat es geregelte Essenszeiten gegeben:

Frühstück: 7:00 Uhr

Mittagessen: 12:00 Uhr

Abendessen: 18:00 Uhr

Diese Zeiten habe ich einhalten müssen. Es hat keine Ausnahmen gegeben, außer ich war krank.

Es hat einen großen Speisesaal gegeben. Ich habe nicht im Zimmer essen dürfen, außer ich war krank. Wenn ich mittags später gekommen bin wegen einem Arztbesuch oder einem Besuch bei einer Behörde, habe ich noch etwas von der Küche bekommen.

Das war aber selten. Wenn ich später zum Abendessen gekommen bin, weil ich zum Beispiel einkaufen war, bin ich zum Abwaschen oder zum Tischdienst eingeteilt worden.

Jetzt habe ich meine eigene Wohnung und ich kann mir meine Essenszeiten selber einteilen.

 

Arztwahl

Früher sind alle Ärzte von den Schwestern bzw. von den Betreuerinnen ausgesucht worden.

Der praktische Arzt ist später zu uns in die Einrichtung gekommen.

Die Zahnärztin, die für uns ausgesucht worden ist, hat uns Kundinnen wie kleine Kinder behandelt.

Der Zahnarzt, der später für uns Kundinnen ausgesucht worden ist, hat mir viele Zähne gerissen.

Die Assistentin war auch unfreundlich. Ich habe noch einmal den Zahnarzt gewechselt und bei dem bin ich heute noch. Den praktischen Arzt habe ich nicht gewechselt. Das heißt: Es ist schon ein neuer Arzt da, weil der andere Arzt in Pension gegangen ist. Aber mit dem neuen Arzt bin ich zufrieden.

Die Vertretung kann ich mir selbst aussuchen, weil es mehrere Ärzte zu Vertretung gibt.

Ich bin auch mit der Frauenärztin zufrieden, welche die Praxis vom ausgesuchten Frauenarzt

übernommen hat. Ich hätte sie schon wechseln dürfen.

Beim Augenarzt habe ich mich beraten lassen.

 

Arbeitsangebot

Ich war sehr lange in St. Elisabeth und zwischendurch im Institut Hartheim.

Die Arbeit habe ich mir nie selber aussuchen dürfen. In St. Elisabeth habe ich von Anfang an

in der Näh-Werkstatt gearbeitet. Ich hatte Lieblings-Arbeiten beim Nähen, die habe ich mir aber nicht selber aussuchen dürfen. Im Institut Hartheim war ich zuerst in der Küche und dann in der Wäscherei.

Das war auch von der Leitung so bestimmt. Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich lieber in der Küche arbeiten wollen. Aber die Schwester Oberin hat mir nur gut zugeredet.

Sie hat auch mit den Mitarbeiterinnen von der Wäscherei geredet. Ich bin weiter in der Wäscherei geblieben. Mein Wunsch war es auch, wieder in St. Elisabeth zu arbeiten. Und dieser Wunsch hat sich nach ein paar Jahren doch erfüllt,  weil mir die Schwestern von St. Elisabeth

auch geholfen haben. Ich habe wieder in der Näherei gearbeitet. Das habe ich gern gemacht.

Durch eine Ausbildung, die ich später gemacht habe, arbeite ich jetzt bei Proqualis am KI-I als

Qualitäts-Evaluatorin. Das ist ein Beruf am allgemeinen Arbeitsmarkt.

 

Integrative Beschäftigung

Ich selbst habe Integrative Beschäftigung nicht mehr erlebt, weil ich da schon bei Proqualis am KI-I

gearbeitet habe. Früher hat es keine Integrative Beschäftigung gegeben. Jetzt gibt es die Integrative Beschäftigung auch in St. Elisabeth. Die Kunden und Kundinnen können auch wählen.

Zum Beispiel: Eine Kundin arbeitet lieber beim Spar als auf dem Bauernhof. Oder: Eine Kundin arbeitet lieber auf dem Bauernhof als bei der Bettwäsche-Firma Fleuresse.

 

Arbeit in der Einrichtung:

Es gibt jetzt auch in der Einrichtung mehr Wahlmöglichkeiten. Man kann in einer Werkstatt arbeiten. Die Arbeit in der Werkstatt kann man sich teilweise aussuchen. Zum Beispiel, wenn es mehr Arbeits-Möglichkeiten gibt. Man kann auch in einem Caritas-Kaffeehaus arbeiten.

 

Recht auf Veränderung

Das habe auch ich erlebt. Zuerst hat es nie eine Veränderung gegeben.

Ich habe immer in der Werkstatt gearbeitet, acht Jahre lang.

Die erste Veränderung, die besser wurde, war die neue Einrichtung in Linz.

Die erste Einrichtung war in Gallneukirchen.

Da hat es große Schlafzimmer mit sechs bis acht Betten gegeben

und den großen Tagraum. In der neuen Einrichtung hat es mehrere Gruppen

gegeben. In jeder Gruppe hat es auch ein Wohnzimmer gegeben,

keinen allgemeinen Tagraum mehr. Wir Kundinnen haben uns in der Freizeit auch  im Zimmer aufhalten dürfen. Es hat Zweibettzimmer und Dreibettzimmer gegeben.

Ich habe mir zum Ersten Mal meine Zimmerkolleginnen aussuchen dürfen.

Die nächste Veränderung war das Institut Hartheim. Das war aber deshalb so, weil ich nicht immer in

St. Elisabeth bleiben konnte. Es hat noch keine Dauerplätze gegeben.

Erst ab 1988 hat es in St. Elisabeth Dauerplätze gegeben. Auf meinen Wunsch habe ich wieder dort

arbeiten und wohnen können.

Die nächsten Veränderungen waren die Ausbildungen. Ich habe das Angebot bekommen,  die Ausbildung SUD zu machen. SUD heißt: Selbst Und Direkt.

Im Anschluss machte ich die Weiterbildung SUD mobil. Das war ein EU-Projekt. Jahre später machte ich die Ausbildung zur Qualitäts-Evaluatorin und dadurch bekam ich meine Arbeit bei Proqualis.

Auch im Wohnen hat es Veränderungen gegeben. Ich habe eine Wohnung bekommen, zuerst war es nur eine ganz kleine Wohnung, später habe ich eine etwas größere Wohnung bekommen und in dieser Wohnung bin ich auch jetzt noch.

Das ist teilbetreutes Wohnen. Es gibt Zielvereinbarungs-Gespräche. Es hat auch schon Persönliche Zukunftsplanung gegeben. Es gibt auch Psychologinnen, wenn man Probleme hat und wem zu reden braucht. Außerdem gibt es Peer-Beratung. Peer-Beratung heißt: Menschen mit Beeinträchtigungen beraten andere Menschen mit Beeinträchtigungen.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen sind gut informiert.

Informationen haben wir schon immer bekommen, auch von den Schwestern.

Sie haben uns gesagt, wenn Veränderungen geplant waren.

Zum Beispiel: Als es öfter Heimfahr-Wochenenden gegeben hat. Oder als es eine neue Zimmer-Einteilung gegeben hat. Und auch, wenn eine Schwester die Einrichtung  verlassen hat und eine neue Schwester gekommen ist. Wir haben auch die Information bekommen, als es zum Übersiedeln war.

Diese Informationen haben wir immer rechtzeitig bekommen. Auch jetzt werden wir informiert,  wenn etwas Wichtiges ansteht oder wenn es Veränderungen gibt.

Wir haben auch jeden Monat eine Besprechung. Im IV Büro gibt es einen Laptop. Da können wir uns auch im Internet informieren. Über die Dokumentation informiert uns unsere Betreuungs-Person.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen haben Kontakte im sozialen Umfeld.

Früher hat es dies auch noch nicht gegeben. Wir sind ziemlich abgeschirmt gewesen. Es hat aber Sonderaktionen gegeben, die es jetzt nicht mehr gibt. Das war zum Beispiel: Ein Nachmittag im TOUROTEL an der Donau. (Das heißt jetzt ARCOTEL.)

Es hat auch den Sonnenzug gegeben. Mit dem haben alle Mädchen fahren dürfen,  wenn sie neu in das Elisabeth-Heim gekommen sind. 20 Jahre später habe ich beim Sparverein mitmachen können.

Auch meine Freundin und eine andere Kollegin waren dabei. Leider ist der Sparverein aufgelöst worden. Und viele Leute von damals leben nicht mehr.

Jetzt gibt es das Cafe Carla. Da kann man auch mit Leuten aus dem Umfeld in Kontakt kommen und auch neue Leute kennenlernen. Meine Freundin und ich waren 2 Jahre in einem  Fitness-Studio.

Da haben wir auch nette Leute kennengelernt. Leider war es uns auf die Dauer zu teuer.

Das ging nämlich nur mit Vertrag.

Jetzt können wir durch besondere Aktivitäten mit anderen Leuten in Kontakt kommen:

Wir gehen 1mal im Monat kegeln. Wir fahren Wellnessen. Wir lernen Leute bei Ausflügen kennen.

Oder wir können im Urlaub Kontakte knüpfen. Zum Beispiel auf einer Kreuzfahrt.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen haben ein Recht auf Bildung.

Früher hat es so etwas nie gegeben, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Weiterbildungen machen können. Ich habe lange Zeit nur in der Werkstatt gearbeitet. Ich habe auch in der Küche und in der Wäscherei gearbeitet. Das Angebot zu einer Weiterbildung habe ich erst 2002 bekommen, 26 Jahre nach dem ich aus  der Schule gekommen bin.

Jetzt gibt es Weiterbildungen vom Empowerment-Center, auch von FRISBI und von EULE.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen haben ein Recht auf Partnerschaft und Sexualität.

Dies war sehr lange ein Tabu-Thema. Wir haben auch keine Hefte darüber lesen dürfen.

Solche Hefte hat man uns weggenommen. Wir waren nur Mädchen im Heim. Ich habe einmal einen jungen Mann kennengelernt. Er hat mich besuchen wollen. Aber bei den Schwestern war das unmöglich. Ich war damals siebzehn. Der junge Mann war auch noch nicht viel älter, vielleicht war er 2 bis 3 Jahre älter als ich. Das weiß ich nicht mehr. Ich habe mich immer nach einem Freund gesehnt.

Erst 2002 habe ich einen Freund bekommen und der wollte nur Sex mit mir haben.

Der Kontakt ist mir nicht verboten worden. Ich bin von selbst draufgekommen,  dass wir nicht zusammenpassen. Bei uns ist es jetzt erlaubt, dass man einen Freund hat.

Bei uns gibt es auch das Gütesiegel Sexualität. Das Thema Sexualität ist kein Tabu-Thema mehr.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen haben ein Recht auf Privat-Sphäre.

Früher habe ich keine Privat-Sphäre gekannt. Immer waren andere Mädchen um mich, die mir sogar zugeschaut haben, was ich mache. Ich habe hauptsächlich gelesen oder geschrieben, manchmal auch mit anderen gespielt. Zum Beispiel: Mensch ärgere dich nicht.

Ich habe Tagebuch geschrieben. Es hätte jeder darin lesen können. Es hat keinen Kasten zum Einsperren gegeben. Und bei mir im Zimmer haben 6 bis 8 Mädchen geschlafen.

Es war schwierig, weil wir uns früher tagsüber nicht  im Zimmer aufhalten durften.

Auch meine Post ist einmal gelesen worden, weil die Oberin nicht wusste, wer mir geschrieben hat.

Es war eine Freundin und die hat etwas Schäbiges über die Schwestern geschrieben.

Sie hat sich auch über die Schwestern lustig gemacht. Das hat mir auch gefallen.

Aber ich habe eine Strafe bekommen. Ich musste dieser Freundin zurückschreiben

Und diesen Brief musste ich der Oberin lesen lassen. Ich habe heimlich noch einen Brief geschrieben

und zwar in Geheimschrift – mit Zahlen statt mit Buchstaben.

Zum Beispiel: A=1, B=2, C=3 und so weiter. Gottseidank ist es jetzt nicht mehr so.

Ich habe eine Wohnung. Ich habe auch ein Handy. Und ich kann Post empfangen, die niemand anderer liest. Und ich kann selber bestimmen,  was ich wem lesen lasse.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen können die Einrichtung uneingeschränkt nutzen.

Als Interessen-Vertreterin kann ich das IV-Büro nutzen. Ich kann unsere Gemeinschaftsräume nutzen

und ich kann die Bücherei nutzen. Aber: Rollstuhlfahrer könnten uns nicht besuchen, weil es in unserer Wohngruppe keinen Aufzug gibt.

 

Menschen mit Beeinträchtigungen wissen, wie sie mit Gewalt umgehen können.

Früher waren sogar die Betreuungs-Personen bzw. die Schwestern gewalttätig, wenn ihnen an den Mädchen etwas nicht gepasst hat. Sie haben uns zwar nicht geschlagen, aber ziemlich hart angepackt. Sie haben mich gezwungen, etwas zu essen, vor dem mir gegraust hat.

Ich bin auch gezwungen worden, in die Kapelle zu gehen, obwohl ich Besuch hatte. Und ich bin bloßgestellt worden, weil mir durch die Periode ein Malheur passiert ist. Später wurden diese Methoden abgeschafft. Wenn ich Besuch habe, kann ich mit dem Besuch alleine sein. Ich werde zu nichts gezwungen. Ich werde auch nicht bloßgestellt. Bei uns hat es auch einen Selbstverteidigungs-Kurs  gegeben. Und ich weiß, wie ich mich vor Gewalt schützen kann.


Menschen mit Beeinträchtigungen haben einen Interessen-Vertretung.

Seit 2010 bin ich Interessen-Vertreterin. Vorher nur für IV Arbeit, seit 2016 für IV Wohnen.

Früher hat es dies nicht gegeben. Da waren für alle Menschen mit Beeinträchtigungen

die Betreuungs-Personen bzw. die Schwestern da. Wir Mädchen hatten nichts zu sagen. Wir konnten uns selbst nicht vertreten und wir konnten andere Mädchen nicht vertreten. Wenn sich wer für wem anderen eingesetzt hat, hat es eine Maßregelung gegeben. Wir haben uns nirgends einmischen dürfen, zumindest fast nirgends. Ein anderes Mädchen hat mir schon einmal geholfen. Und zwar, als es eine Kasten-Kontrolle gegeben hat. 2002 habe ich das Angebot zur Ausbildung SUD bekommen. Das heißt: Selbst Und Direkt. Das war eine Ausbildung zur Selbstvertretung. Und daraus wurde bei mir später die Interessen- Vertretung.

Jetzt bin ich schon lange Interessen-Vertretern

Und ich bin froh, dass es eine Interessen-Vertretung gibt.

geschrieben von
Cornelia Pfeiffer

Auszug Laudatio von Ludwig Laher zu
„45 Jahre in einer Einrichtung“

Cornelia Pfeiffer hat einen wunderbaren, umfangreichen Sachtext verfasst, der Leserinnen und Leser auch emotional berührt. Denn die Autorin führt uns einerseits lebendig vor Augen, wie insensibel, übergriffig, unnötig bevormundend man vor noch nicht allzu langer Zeit mit Menschen, mit Frauen wie ihr umgegangen ist. Ihre präzisen, übersichtlich gegliederten Vergleiche von einst und jetzt sind bestechend. Andererseits dokumentiert diese Prosa eindrucksvoll das ungeheure Reflexionsniveau, das eine sozial engagierte, strukturell denkende Frau wie Frau Pfeiffer im Verein mit dem nötigen Selbstbewusstsein an den Tag legt.

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