Online-Sucht: Wer bin ich ohne den Avatar?

Online-Sucht: Wer bin ich ohne den Avatar?
Die erste stationäre Therapie für Online-, Social Media- und Gaming-Sucht reagiert auf gesellschaftliche Tendenzen

Battle Royale. Wie die simple Übersetzung vermuten lässt, handelt es sich dabei jedoch nicht um eine königliche Schlacht – für viele Mitstreiter wird es dies wohl trotzdem sein –, sondern um die Bezeichnung eines Multiplayergenres für Computerspiele. Dabei kämpfen mehrere Spieler in einem abgesteckten Areal oder einer ganzen Welt so lange gegeneinander, bis nur mehr ein Gewinner lebt. In der virtuellen Welt natürlich.

Dass die Grenzen zwischen dem realen Menschen und dem virtuellen Gamer jedoch auch in ungesundem Maße verschwimmen können, zeigt ein neues Angebot am Anton-Proksch-Institut in Wien. Dort wird österreichweit die erste achtwöchige, stationäre Therapie für Internetsüchtige angeboten. „Es handelt sich bei den Patienten zumeist um relativ junge Personen im Alter um die 20 Jahre. Unsere Alkoholkranken sind hingegen im Schnitt 40 bis 60 Jahre alt“, betont Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton-Proksch-Instituts (API). In der Anlaufphase bestand die Gruppe aus sechs Patienten: „Darunter befanden sich auch eine junge Frau als Social-Media-Süchtige und ein Online-Porno-Süchtiger“, erzählt Roland Mader, Psychiater und Programmleiter.

Hat es das krankhafte Nutzen von Online-Angeboten wie Games, Social Media & Co. im Vergleich zur Drogensucht schwerer als Sucht anerkannt zu werden?

Michael Musalek: Hier gab es im Juni 2018 einen Meilenstein: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Online-Gaming-Sucht in ihren Katalog der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen. Ein wichtiger Schritt, um die Akzeptanz dafür zu erhöhen und es so Betroffenen zu erleichtern, sich in Behandlung zu begeben.

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Dr. Michael Musalek hat die "Orpheus-Methode" mitgeprägt, um den Suchtmitteln ihre Verführungskraft zu nehmen

Roland Mader: Es ist nicht ganz einfach abzugrenzen, ab wann die Internet- oder Computernutzung einer Person zur Sucht wird. Generell lässt sich sagen: Es kommt nicht auf die Zahl der Stunden an, die eine Person in der virtuellen Welt verbringt, vielmehr ist der Rückzug aus dem „echten“ Sozialleben der Indikator. Kommt jemand ständig zu spät in die Arbeit oder in die Schule, schläft er oder sie dort sogar ein, hat die Person kaum mehr Sozialkontakte oder nur mehr über den Computer? Für Familie und Freunde ist es wichtig, hier nicht den Kontakt zu verlieren und sich für die Beschäftigung des Gamers zu interessieren. Andererseits braucht es das Angebot, rauszugehen ins „echte Leben“. Diese Schritte sollten immer ohne Vorwürfe gesetzt werden, um den Betroffenen nicht noch mehr in seine virtuelle Welt zu drängen.

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Programmleiter Dr. Roland Mader beschäftigt sich seit Jahren mit den "substanzunabhängigen" Suchterkrankungen

Gibt es eine besondere Risikogruppe und wie viele Menschen sind von Online-Gaming-Sucht betroffen?

Mader: Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind davon schätzungsweise betroffen, fast ausschließlich handelt es sich dabei um junge Männer. Bei den 15- bis 18-Jährigen liegt die Zahl der Online-Gaming-Süchtigen Schätzungen zufolge sogar bei vier Prozent. Besonders anfällig dafür sind Personen, die exzessiv „Fortnite“ oder „World of Warcraft“ spielen. Sie nutzen Avatare in einer virtuellen Fantasiewelt, in der sie besondere Kräfte haben und Teil einer Gruppe sind. Das Zugehörigkeitsgefühl wird allerdings schnell zum Gruppenzwang, nach dem Motto: „Du kannst jetzt nicht schlafen gehen, du musst mit uns weitermachen.“

Was hat sich in der Gesellschaft verändert, dass ein Programm für Online-Sucht notwendig wurde?

Musalek: Das Internet bietet uns Menschen eine Vielzahl an Möglichkeiten, das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Kommunikation, Spiel und Unterhaltung zu befriedigen. Natürlich ist das grundsätzlich gut, aber nicht alle Menschen können mit dieser Fülle an Möglichkeiten umgehen. Wenn der Internetgebrauch zum zentralen Lebensinhalt wird, finden Betroffene und Angehörige oft ohne professionelle Unterstützung keinen Weg mehr raus. Eine erste, wichtige Anlaufstelle sind dabei auch die Ambulatorien des Anton Proksch Instituts in Wien-Wieden, Wien-Landstraße, Baden, Mödling sowie Wr. Neustadt und Neunkirchen.

Mit welchen Methoden wird in der Behandlung vorgegangen?

Mader: Im Rahmen einer achtwöchigen stationären Therapie werden in Gruppen Themen behandelt wie: Was bedeutet Online-Sucht überhaupt für die Betroffenen? Welche psychischen Bedürfnisse erfüllt die exzessive Internetnutzung? Wie kommen die Betroffenen zu einem neuen Zeitmanagement im Alltag, um Rückfälle zu verhindern? Denn natürlich ist bei der Internet-Sucht eine völlige Abstinenz keine Option. Für Online-Gamer ist vor allem die Lösung von ihrem Avatar eine große Herausforderung. Sie müssen für sich die Fragen klären: Wer will ich eigentlich sein? Und welche Fähigkeiten habe ich noch, wenn ich nicht mehr die Superkräfte des Avatars besitze?

Musalek: Jede Therapie bei uns im Haus orientiert sich an den Ressourcen der Betroffenen. Wer schöne Ziele hat und diese auch erreichen kann, für den ist ein erfülltes Leben – wieder – möglich. Egal, ob Alkohol-, Medikamenten- oder eben Online-Sucht: Wir unterstützen Menschen dabei, ihren individuellen Weg zurück in ein gelungenes (Sozial-)Leben zu finden. So können Suchtmittel dauerhaft ihren Reiz verlieren.

Weitere Informationen zum Thema Online-Sucht sowie zum Therapieangebot des Anton Proksch Institut: https://api.or.at/

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