Von Faszie bis Faser: Wie uns unsere Muskeln gesund halten
Ohne schwarze Schwingen, aber mit dem geborgten Namen ist „Die Krähe“ eine der Yoga-Posen, bei der angehende Yogini zum ersten Mal das Gefühl von Fliegen auf der Matte verspüren. Das Gewicht des Körpers wird zur Gänze auf die Arme verlagert, die Handflächen flach am Boden wird der Rücken gebeugt, die hinteren Oberarme tragen das Gewicht der Beine über die aufgelegten Knie, die Fersen heben vom Boden ab. Fünfmal tief ein- und ausatmen und absetzen. Tadasana.
Es sind durchaus fordernde Bewegungen wie diese aus dem Tierreich des Yoga, die so manchen Sportmuffel schnell aus dem Körperkonzept bringen. Denn hier kommt eine Vielzahl an Muskeln zum Einsatz, die im besten Fall etwas Bewegung gewöhnt sind: Der Gluteus, unsere Hinternmuskulatur wird gedehnt, gestärkt werden der Trizeps, die Unterarmmuskeln, die Adduktoren der Beine, der Pectoralis (unser Brustmuskel), die Bauchmuskulatur (Rectus Abdominis) und der Delta-Muskel in der Schulter. Sobald das Gehirn die Entscheidung trifft, einen Muskel zu bewegen, schickt es ihm über Nervenstränge das Signal, und eine höchst komplizierte Kette an Abfolgen in unserem Körper nimmt ihren Lauf.
Ohne unsere Muskeln könnten wir nicht einmal unsere Augen bewegen, denn auch für das Erweitern der Pupille brauchen wir den Musculus dilatator pupillae. Alles in allem machen die mehr als 600 Skelettmuskeln, die Kraftpakete, die unsere Knochen miteinander verbinden, im menschlichen Körper rund ein Drittel unseres Körpergewichtes aus. Und der Facharzt für Physikalische Medizin, Dr. Walter Bily, weiß, dass Muskeln auch mehr sind als reine Befehlsempfänger: „Rein mechanisch betrachtet sind Muskeln beim gesunden Menschen Befehlsempfänger. Allerdings senden sie selbst auch eine Menge metabolischer Signale aus und stellen damit ein zentrales Stoffwechselorgan dar. Überträger dieser Informationen sind die sogenannten Zytokine“.
Neben der Bewegungsfunktion hat die Muskulatur eine ungeheure Bedeutung als Stoffwechselorgan sowie als hormonelles und immunologisches Organ.
Kraftkammer
Belasten wir unsere Muskeln durch Sport oder körperliche Arbeit, kann dies Spuren im Gewebe hinterlassen. Zahlreiche Eiweißmolekülfäden werden beschädigt, Muskelfasern, ganze Bündel oder sogar Bindegewebshüllen können reißen. Diese Mikro-Verletzungen sind uns nur allzu gut bekannt, unter dem Namen „Muskelkater“. Mehrere Tage braucht der Körper Zeit, um dieser kleinen Verletzungen wieder Herr zu werden.
Aber: Leichte Beanspruchung während eines Muskelkaters regt die Durchblutung an und fördert damit die Regeneration des Gewebes. Es scheint fast so, als würde sich der Muskel hier selbst keinen Gefallen tun, indem er sich quasi selbst verletzt, es ist jedoch ein raffinierter Prozess, der dadurch ausgelöst wird. Denn der Muskel repariert nicht nur die entstandenen Schäden, sondern bereitet sich auch darauf vor, einer vergleichbaren, wenn nicht sogar größeren Anstrengung zukünftig standhalten zu können.
In den Muskelzellen werden neue Myofibrillen angelegt, neue Molekülfäden in die bereits existenten eingelagert und auf diese Weise nimmt der gesamte Muskel an Umfang zu. Experte Bily weiß das medizinische Zeitfenster: „Innerhalb von drei bis sechs Wochen können relevante Kraftverbesserungen und verbesserte Synchronisierung von Muskelgruppen erreicht werden. Nach sechs bis zwölf Wochen finden sich dann auch zunehmend Veränderungen im Sinne von Muskelzellvergrößerungen (Hypertrophie) und Stoffwechselverbesserungen der Muskelzelle.“ Ist ein wachsender Querschnitt des Bizeps gewünscht, braucht es also ein paar Wochen, bis sich Ergebnisse dann auch wirklich ästhetisch sehen lassen.
Zudem setzt eine scheinbar simple Übung wie ein schlichter „Bizeps Curl“ weitreichende Prozesse in Gang: Viele Muskeln arbeiten komplementär, es gibt sie also jeweils im Paar als Beuger und Strecker. Wird beim Curl die Hantel zur Brust gezogen, kontrahiert der Bizeps an der Vorderseite des Oberarms, während er den Unterarm im Ellenbogengelenk beugt. Bei der Gegenbewegung zieht sich dann der Trizeps an der Hinterseite des Oberarms zusammen.
Sportmediziner gehen davon aus, dass 40 Prozent der gesteigerten Leistung im Training bloß auf die bessere Synchronisation von Muskelgruppen zurückzuführen ist. Und ein weiterer interessanter Fakt: Trainiert man nur eine Seite, wird bald auch auf der anderen Seite ein Kraftgewinn verzeichnet. Die Forscher vermuten, dass hier der Organismus zum Zweck der Symmetrie automatisch auszugleichen versucht.
Gehirntraining
Kontinuität ist der Schlüssel. Wie so oft, ist das auch der Weg auf der Zielgeraden zu starken, definierten Muskeln. Wird ein Muskel nämlich über einen längeren Zeitraum regelmäßig krafttrainiert und plötzlich nicht mehr, verliert er diese einmal erreichte Maximalkraft und sein Volumen „innerhalb von einigen Tagen bis einigen Wochen“, weiß Dr. Bily: „Bei völliger Bewegungskarenz (Anm.: Festgestellt durch die sogenannten „Bedrest Studies“, bei denen die Teilnehmer teils Monate nur liegend verbringen) betragen Muskelkraft- und Volumensverlust ca. 30 bis 50 Prozent in zwei bis sechs Wochen.“
Es gibt jedoch eine gute Nachricht: Ein genetisch bedingtes Phänomen sorgt dafür, dass einmal gut und intensiv trainierte Muskeln nach wiederaufgenommenen Training schneller wachsen und kräftiger werden. Muskeln haben quasi ein Gedächtnis und erinnern sich an ihren einmal dagewesenen Zustand. „Der Muskel speichert diese Erfahrung im Erbgut, im genetischen sowie wahrscheinlich auch im epigenetischen Gedächtnis“, erläutert der Mediziner Bily. Er zeigt hier aber auch die Schattenseite dieses Umstands auf: „Doping, also unlautere Methoden, wie zum Beispiel durch anabole Steroide hervorgerufenes Muskelwachstum, das irgendwann einmal stattgefunden hat, bringt demjenigen Sportler wahrscheinlich lebenslang einen gewissen Trainingsvorteil gegenüber einem niemals gedopten Kollegen.“
Die Muskelpille
Es kann nicht nur ästhetisch von Vorteil sein, über mehr Muskelmasse zu verfügen, sondern auch für unseren Geist sind mehr Muskeln gleichbedeutend mit einer größeren Gesundheit. Denn wie Forscher festgestellt haben, setzen Muskeln bei ihrer Arbeit tausende unterschiedliche Eiweiße im Blutstrom frei. Darunter befinden sich auch hormonähnliche Substanzen, mit denen die Muskeln Informationen an den Körper aussenden.
Die Wirkungen sind vielseitig: Sie verbessern die Effizienz unseres Immunsystems, Krankheitserreger können dadurch schneller abgetötet werden. In der Leber kurbeln sie die Verwertung von Zucker an, was Übergewicht vorbeugt, und unsere Fettvorräte werden schneller angegriffen und lösen sich auf. Auch die Insulinproduktion wird angeregt, und sogar auf den Wachstumsprozess greifen sie ein, indem sie die Bildung von Knochengewebe fördern. Schlussendlich interagieren auch Muskeln und Hirn, da Muskelarbeit sogar die Bildung von Synapsen im Gehirn anregt.
Zirkeltraining
Die traurige Wahrheit ist: Ab Mitte 20 nimmt die Trainierbarkeit der Muskulatur jedes Jahr ein bisschen ab. Das heißt, ab diesem Zeitpunkt müssen die Muskeln weitaus mehr gefordert werden als in jungen Jahren. Zudem gilt es, den gleichzeitig stattfindenden Abbau von Muskelgewebe auszugleichen – ein natürlicher Prozess jedes menschlichen Körpers, dem nur mit Muskelaufbau gegensteuert werden kann. Die gute Nachricht gegen jede muskuläre Quarter- oder Midlife-Crisis: Die Muskelfasern verlieren niemals ihre Fähigkeit an Masse zuzulegen. Das heißt, der Mensch kann und sollte bis ins hohe Alter hinein von der Heilkraft seiner Muskeln profitieren und einem ganz einfachen Rezept folgen: immer in Bewegung bleiben.
In den Muskel hineinschauen
Es sind Milliarden Molekülfäden, die sich zusammenziehen müssen, damit ein Arm eine Hantel von einem Kilogramm Gewicht heben kann. Wie ist ein Muskel also aufgebaut und wie wird er stark?
Von den mehr als 600 Muskeln des menschlichen Körpers werden 277 als sogenannte Skelettmuskeln bezeichnet. Sie sind für die gewollten, willkürlichen Körperbewegungen zuständig. Sie verbinden die Knochen miteinander, sodass ein Schritt, ein Greifen, ein Sich-in-die-Höhe-Recken überhaupt möglich ist. Diese Kraftpakete sind komplex aufgebaut, und aus Myriaden von Mikro-Manövern entsteht schließlich etwas für den Menschen alltäglich Selbstverständliches: eine Bewegung.
Der Aufbau, vom ganzen Muskel bis zu den mikroskopisch kleinen Molekülfäden, ist höchst faszinierend.
Am Beispiel der hinteren Oberschenkelmuskulatur umhüllt den Muskel eine Schicht aus straffem Bindegewebe, genannt Faszie. Diese ist durchzogen von Nervenbahnen und Kapillaren, feinen Verzweigungen der Blut- und Lymphgefäße. Ja nachdem, um welchen Muskel es sich handelt, umhüllt die Faszie wiederum hunderte, wenn nicht sogar tausende kleine Faserbündel, die bis zu einem Millimeter dick sein können.
Macht man von diesen Faserbündeln wiederum einen Querschnitt, kommen eng gepackt und von Bindegewebsschichten zusammengehalten dutzende haarfeine Stränge zum Vorschein, die bis zu 17 Zentimeter lang sein können. Das sind die Muskelfasern, die alle von einer weiteren Schicht aus Bindegewebe umhüllt sind. Diese Stränge sind die Zellen des Muskelgewebes und enthalten wiederum eine Menge von nur ein tausendstel Millimeter dicken Myofibrillen. Die Myofibrillen bestehen aus zahllos aneinandergereihten Paketen winziger Molekülfäden, den Aktin- und Myosin-Filamenten.
Diese Milliarden von Eiweißmolekülfäden sind die eigentlichen Mobilmacher des Körpers: Durch die Dichte, in der diese Fäden aneinanderliegen, können sie sich ineinanderschieben und durch diese Bewegung zusammenziehen, ähnlich einer Teleskopstange. Auf ein Nervensignal hin sorgen komplexe biochemische Prozesse für ein Verkürzen der Fibrille. Jeder einzelne Molekülfaden bewegt sich zwar nur ein Zehntausendstel eines Millimeters, doch die Kettenreaktion führt dazu, dass der gesamte Muskel kontrahiert. Und der Verband von Sehnen, Bändern, Gelenken und Knochen mit den Muskeln lässt uns schlussendlich gehen.
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