Zukunftsserie: Reise in den Sonnenuntergang

Zukunftsserie: Reise in den Sonnenuntergang
Das große Vergessen. Die Gehirnzellen unter Stress. Alzheimer. Michael Horowitz über einen Hoffnungsschimmer für das heimtückische, schleichende Nervenleiden.

Man erinnert sich nicht mehr, was im nächsten Moment zu tun ist. Man ruft irgendwen an, ohne zu wissen warum. Man steigt in die U-Bahn, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Irgendwann landen die Handschuhe im Toaster. Die Reise ins Vergessen hat eingesetzt. Dann leben Alzheimer-Patienten bereits in einer neuen Welt, in ihrem alleinigen, eigenen Kosmos. Von Verwandten und Freunden isoliert. Die Kluft zwischen den anderen und sich selbst wird von Tag zu Tag größer. Alzheimer raubt den Kranken ihre Persönlichkeit. Doch oft wirken sie scheinbar glücklich und zufrieden. Bereits rund acht Jahre vor der Diagnose stellen sich Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis ein. In der frühen Phase der Krankheit kann man sehr gut überspielen, dass man sich immer weniger merkt und die Konzentration nachlässt. In dieser Phase der Prädemenz versucht man vor allem, seinen Zustand voller Scham zu vertuschen. Aber irgendwann verliert man sich, das schleichende Nervenleiden übernimmt das Kommando im Hirn. Eiweißmüll sammelt sich über Jahre im Gehirn an, bildet Klumpen und setzt die Nervenzellen unter Stress.

Aus vielen Studien weiß man, dass bei Menschen, die ihr ganzes Leben lang geistig rege waren und Sozialkontakte pflegten, wie bei Musikern und Schauspielern, die ihr Gehirn ständig trainierten, Demenzerkrankungen später einsetzen. Dann aber rasant voranschreiten. Wie bei der Liebesgöttin Hollywoods Rita Hayworth, Ben Hur Charlton Heston oder dem traurigsten aller Komödianten Harald Juhnke. Und wie beim Direktor der New Yorker Metropolitan Oper, Sir Rudolf Bing oder dem Schauspieler/Präsidenten Ronald Reagan. Als er 83-jährig erfuhr, dass er an Alzheimer leide, wandte er sich ein letztes Mal an die amerikanische Öffentlichkeit. Und versuchte, anderen Patienten Mut zu machen, mit der Krankheit offen umzugehen. In einem handgeschriebenen Brief meinte er Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt … Der einst mächtigste Mann der Welt war der erste Prominente, der sich öffentlich zu dieser demütigenden, bis dahin als Tabu behandelten Krankheit bekannte. Schon bald nach Reagans Outing stellte der amerikanische Staat wesentlich mehr Geld für die Demenz-Erforschung bereit. Und auch in anderen Ländern überstiegen die Etats bald die der Aids-Forschung.
Doch die Medizin bietet seit Reagans Versuch vor 20 Jahren, am 5. November 1994, das Alzheimer-Stigma zu bekämpfen, wenig Hoffnung. 2050 wird es weltweit rund drei Mal so viel Alzheimer-Kranke geben wie heute. 115 Millionen Menschen. Zwar gibt es noch immer kein Medikament, das zu einer Heilung führen kann, doch man hat bereits erstaunliche Einsichten in die molekularen Ursachen verschiedener Formen der Demenz gewonnen. Allerdings können Wissenschaftler weiterhin den Patienten keine wirksamen Therapien anbieten. Was bei Mäusen vielleicht wirkt, schlägt beim Menschen fehl. Seit Kurzem ist ein zarter Hoffnungsschimmer für die Zukunft der Volkskrankheit da: Erstmals haben Forscher ein Alzheimermodell aus menschlichen Zellen entwickelt – Demenz in Schälchen. Damit kann der Durchbruch bei der Suche nach Medikamenten zur Heilung beschleunigt werden. Der Genetiker und Altersforscher Doo Yeon Kim hat aus menschlichen Stammzellen kleine, räumlich miteinander vernetzte Nervenzellenverbände in einem Gel wachsen lassen. Um danach einen genetischen Trick anzuwenden: Professor Kim baute zwei Erbanlagen in die Zellen ein, die für die familiäre Form der Alzheimerdemenz verantwortlich sind, berichtete vor Kurzem das Wissenschaftsmagazin „Nature“ fast euphorisch. Und weltweit zeigt sich die Fachwelt von der Demenz in Schälchen begeistert. In Zukunft werden mit dieser Idee Tausende potenzielle Medikamente geprüft, die sich derzeit bei diversen Pharmariesen in Entwicklung befinden.

Hoffnung für die Zukunft. Immerhin ist es schon rund hundert Jahre her, dass der Arzt Alois Alzheimer zum ersten Mal die später nach ihm benannte Krankheit beschrieb. Ein Mann brachte damals seine verwirrte und orientierungslose Frau auf die „Städtische Anstalt für Irre und Epileptische“ in Frankfurt. Nach ihrem Tod 1906 untersuchte Alzheimer ihr Gehirn. Und fand Eiweißablagerungen in der Hirnrinde. Der Auslöser für die heimtückische, unberechenbare Krankheit.

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