Zurück in die Zukunft

Oskar Kokoschka bei einer Gartenparty des Kunsthändlers Friedrich Welz. Mit dem Dirigenten István Kertész, dem Musikologen H.C. Robbins und der Malerin Milein Cossmann
Zwischen Kapitulation, Marshallplan und Staatsvertrag: Eine Zeitreise in jene Jahre, als das Fundament für eine erfolgreiche Zukunft Österreichs gelegt wurde. Festgehalten in beeindruckenden Bildern von Fotografen-Legende Erich Lessing.

Was tun, wenn alles kaputt ist? Den Staub abschütteln, anpacken, wieder aufbauen. Stück für Stück. Fleiß ist das Fundament jeder echten Erfolgsgeschichte. Und eine solche waren die Jahre zwischen 1945 und 1955 aus rotweißroter Sicht. Trotz Zerstörung, Hunger, Armut – und quälender Ungewissheit.

Österreich im Frühjahr 1945. Ein Land, das es seit sieben Jahren nicht mehr gab – und vielleicht nie wieder geben würde. Befreit, ja, endlich. Aber vielleicht schon morgen zerstückelt, verschiedenen Interessenssphären zugeordnet, aufgeteilt. „Die Sache mit den Österreichern und den ,Germanski' verstand ich nicht. ,Germanski' sagten die Russen zu den Deutschen. So viel war klar. Warum wir jedoch plötzlich keine Deutschen mehr waren, das begriff ich nicht“, erinnert sich die große österreichische Erzählerin und Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger an diese Zeit. „Man wusste an keinem Tag, wie es weitergeht. Ob es weitergeht“, sagt der heute 92-jährige Fotograf Erich Lessing, der damals aus Palästina nach Wien zurückkehrte und feststellen musste, dass praktisch seine gesamte Familie dem Nazi-Terror zum Opfer gefallen war.
1950 wurde Lessing in die berühmte Fotoagentur Magnum aufgenommen, arbeitete Seite an Seite mit Größen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa und wurde so nach und nach selbst zum weltweit anerkannten Fotografen. Lessing begleitete den Wiederaufstieg seiner Heimat mit, die er als Jude 1939 mit 16 Jahren verlassen musste, mit und dokumentierte diesen in einprägsamen Bildern – zu sehen in seinem aktuellen Fotoband „Von der Befreiung zur Freiheit – Österreich nach 1945“.

Lessings Bilder sind, wie er selbst sagt, ein Versuch, „die Zeit festzuhalten“. Das ist ihm auf eindrucksvolle Weise geglückt. Egal, ob es sich um die Großen der Politik handelt, wie sie diskutieren, posieren und staatstragende Verlautbarungen machen. Oder um die Menschen auf der Straße, die jeder für sich dazu beitragen, dass das Leben nicht nur weitergeht, sondern sich entwickelt. Besser wird. Zu einer Normalität führt, die für uns heute vielleicht schon wieder allzu selbstverständlich geworden ist. Da sieht man eine Zeitungsverkäuferin, die sich mit Stroh gefüllte Körbe um die Füße band, um der Winterkälte zu trotzen. Jungärzte, die für bessere Ausbildungsmöglichkeiten demonstrieren. Frauen am Markt, die im Schutz ihrer Kopftücher das Angebot prüfen. Nein, keine Vielfalt, kein Überangebot. Nur Erdäpfel, aber, wenigstens an diesem Tag, genug davon.


Kleine und größere Freuden? Natürlich, auch die dürfen in einem Land, das seine Zukunft gestaltet und nach Jahren der Unterdrückung die eigene Identität sucht, nicht fehlen. Kaffeehäuser wurden wieder eröffnet, mit ihrer Kultur der entspannten Plauderei, Schach, Billard, Zeitungen. Praktisch sofort nach dem Krieg wurde begonnen, den schwer zerbombten Wurstelprater wieder aufzubauen. Die Arbeiten am Riesenrad starteten zeitgleich mit denen am Stephansdom. Beides ist wichtig, auch das sieht man in Lessings Bildern, wenn Krankenschwestern in einer Arbeitspause auf dem Kettenkarussell einen unbeschwerten Moment der Ausgelassenheit genießen. Und was wäre ein Wiederaufbau ohne Kultur?

„Die Hoffnung drückt sich in der Kunst aus, und sie drückte sich in dieser Zeit ganz extrem aus. Die Kunst ist nicht umzubringen, nicht einmal durch einen Krieg“, sagte Udo Jürgens, der die Nachkriegsjahre als Gymnasiast erlebt hatte, kurz vor seinem Tod in einem Fernsehinterview. In Salzburg bastelt man schon im Sommer 1945 an einem neuen Festspielprogramm, noch ohne große Stars. Freiherr Heinrich von Puthon, persona non grata in der Nazi-Diktatur, wird erster Präsident, Hugo von Hofmannsthal wird aufgeführt, zwei Drittel der Besucher sind amerikanische Armeeangehörige. Aber es ist ein Anfang. Helmut Qualtinger sorgt in Wien schon als Teenager für Aufsehen, wird als 18-Jähriger von den Russen für drei Monate inhaftiert, weil er mit einem selbst ausgefertigten Ermächtigungsschreiben eine Villa beschlagnahmt, um darin ein linksgerichtetes Theater zu gründen. Den schrecklichen Spiegel des „Herrn Karl“ wird er den Österreichern erst 16 Jahre später, 1961, vorhalten. Auch das Kabarett Simpl in Wien wird direkt nach dem Krieg wieder bespielt, Fritz Muliar kommt 1949 aus Klagenfurt zurück in die Hauptstadt, Karl Farkas ein Jahr später. Er wird das Wiener Kabarett zu neuen Höhenflügen führen. Im Herbst 1955 zieht das Burgtheater vom Exil im Raimundtheater wieder zurück ins angestammte und endlich restaurierte Haus am Ring. Der erste Opernball folgt am 26. Februar 1956.


Natürlich profitierte Österreich auch von der rasch abkühlenden Stimmung zwischen den alliierten Besatzungsmächten. Die USA hatten großes Interesse an starken Ländern im Herzen Europas, als Bollwerk gegen den Kommunismus. Der Marshallplan kurbelte die Wirtschaft entscheidend an. Auch hier eine rotweißrote Besonderheit: Österreich war der einzige Staat, der – zumindest teilweise – von sowjetischen Truppen besetzt war, und dennoch Unterstützung erhielt. Die damals noch demokratische Tschechoslowakei musste auf Druck Moskaus das US-Finanzhilfe-Angebot ausschlagen. Es lässt sich heute nur erahnen, wie groß die Unsicherheit bei uns anhand solcher Geschehnisse gewesen sein muss ...

Die Amerikaner punkteten aber nicht nur mit Geldmitteln, sondern auch mit Lifestyle. Jazz-Clubs, Jive, Tranky Doo und Boogie auf der Tanzfläche, die Musik des Blue Danube Network und des Senders Rot-Weiß-Rot des amerikanischen Militärs in den Radios. Dazu Jazz und Swing in den Musikboxen. Und, heute beinahe vergessen: Die Amerikaner brachten neben Nylonstrümpfen und Kaugummi auch die sogenannten „Soapboxes“ nach Europa, zeigten den österreichischen Kindern, wie man aus unscheinbaren Transportkisten rasante Autos baut. Und kurbelten so in den Nachkriegsjahren eine kaum zu bremsende Begeisterung für Seifenkisten-Rennen in Österreich und Deutschland an.


Außerdem kam ein Held über den großen Teich, der stilprägend für das männliche Erscheinungsbild der nächsten zehn Jahre sein sollte: Hochgeschlagener Mantelkragen, Hut, Zigarette – noch vor Weihnachten 1945, keinen Monat nach der ersten österreichischen Nationalratswahl, kam Humphrey Bogart auf der „Spur des Falken“ in die Wiener Kinos. Die österreichische Filmindustrie verlegte sich anfangs eher auf Operetten- und Heimatfilme. Die heile Welt schien doch das begehrenswertere Sujet als Verbrechen und Gewalt. Auch verständlich, nach all den Jahren. Und der „Hofrat Geiger“ entführte nicht nur die eskapismuswilligen einheimischen Kinobesucher in die idyllische und unversehrte Landschaft der Wachau, sondern war auch eine gute Werbung für den österreichischen Fremdenverkehr. „Ma-ri-andlandlandl ...“

Internationaler Zwischenfall in Wien: Ein sowjetischer Militärpolizist entführte einen tschechischen Staatsbürger und wollte mit ihm in einem gestohlenen Auto in die russische Zone. Ein amerikanischer MP der „Vier im Jeep“ rammte den Wagen aber und zwang seinen russischen Kollegen zum Aussteigen. Dennoch mussten Entführer und Entführter am Ende an die sowjetischen Behörden ausgeliefert werden. Alleine von Januar bis Oktober 1948 wurden 268 Personen ohne ersichtlichen Grund von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet

Mit dem „Arlbergexpress“ wagte sich Paul Hubschmid aber durchaus auch ins Abenteuer-Genre, das „Vierte Gebot“ (Attila Hörbiger) thematisierte das auch 80 Jahre nach Anzengruber noch aktuelle Problem des unbedingten Gehorsams, während die Amerikaner neben zahllosen Gangsterfilmen die immer beliebteren Western lieferten und das Cowboy-und-Indianerspielen im Gemeindebau ebenso wie am Bauernhof populär machten. 1949 stellte der britische Film „Der dritte Mann“ mit Joseph Cotten und Orson Welles alles, was man bisher von Wien gesehen und gedacht hatte, in den Schatten. Und drei Jahre später überraschte die österreichische Filmindustrie mit ihrem ersten Nachkriegs-Science-fiction-Film: Nach einem Drehbuch von Ernst Marboe zeigte der „1. April 2000“ ein Österreich, das in einer damals unwahrscheinlich fernen Zukunft noch immer um den Staatsvertrag kämpft. Auch hier Ungewissheit, Ängste, Sorgen – trotz des bereits florierenden Wirtschaftswunders ...

So lange wie im Film prognostiziert sollte es dann zum Glück aber doch nicht mehr dauern. Am 15. Mai 1955 wurde das ersehnte Schriftstück zur „Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“ im Marmorsaal von Schloss Belvedere unterzeichnet. Dort, und nicht auf dem Balkon, sagte Außenminister Leopold Figl die wahrscheinlich berühmtesten drei Worte der heimischen Nachkriegsgeschichte: „Österreich ist frei.“


Erich Lessing war auch an diesem Tag als Fotograf dabei, hat den Moment festgehalten. Kann Fotografie noch mehr, kann sie die Welt verändern? „Beim Aufstand in Ungarn haben wir gelernt, dass das nicht geht ... Bewegen vielleicht ja, aber nicht verändern“, schreibt der Doyen der österreichischen Fotografie in seinem aktuellen Buch. Seit Jahren lässt Erich Lessing übrigens die Kamera zuhause, wenn er unterwegs ist. Vielleicht ja eine Reaktion auf die inflationäre Selfie-Digitalfotografie. Seine Begründung: „Man muss nicht alles fotografieren, man kann es auch so in Erinnerung bewahren.“

Am 4. April 1945, zwei Tage, bevor die „Schlacht um Wien“ begann und mehr als einen Monat vor dem Ende des 2. Weltkriegs, kontaktierte der 75-jährige Karl Renner in Hochwolkersdorf die russische Kommandozentrale – und erhielt von Josef Stalin persönlich den Auftrag zur Regierungsbildung für ein neues Österreich. Dass Renner den Diktator, der mit einer kommunistischen Volksfront-Regierung rechnete, darüber im Unklaren ließ, dass er auch bürgerliche Kräfte ins Boot zu holen gedachte, war gewagt, verlieh aber Renners „politischer Elastizität“, die später von Historikern oft kritisiert wurde, einen positiven Anstrich. Am 27. April, also elf Tage vor dem offiziellen Kriegsende, legten die sozialistische Partei, die Volkspartei und die Kommunisten gemeinsam die österreichische Unabhängigkeitserklärung vor. Dabei beriefen sich Renner & Co auf die „Moskauer Deklaration von 1943“, in der die Alliierten den Anschluss von 1938 für null und nichtig erklärten und Österreich als zu befreiendes Land definierten. Vorerst erkannte nur die Sowjetunion die neue Regierung unter Staatskanzler Renner an, erst am 20. Oktober taten dies auch die USA, Großbritannien und Frankreich. Am 25. November fanden die ersten Nationalratswahlen statt. Es sollte noch fast zehn Jahre dauern, bis Österreich durch einen Staatsvertrag zur souveränen demokratischen Republik wurde. Am 15. Mai 1955 wurde das Schriftstück von den Außenministern und den Botschaftern der Siegermächte sowie von Österreichs Außen- minister Leopold Figl unter- zeichnet. Die Ratifizierung in den jeweiligen Staaten dauerte bis zum 27. Juli. Danach blieb eine Frist von 90 Tagen, um den Abzug der Besatzungssoldaten zu bewerkstelligen. Diese endete am 25. Oktober. Die letzten Russen verließen Österreich übrigens bereits am 19. Oktober, eine Gruppe von etwa 20 britischen Soldaten wurde erst am 29. Oktober mit einem Fest aus Kärnten verabschiedet. Der 26. Oktober war aber der erste Tag, an dem offiziell keine fremden Truppen mehr in Österreich stationiert waren. An diesem Tag beschloss der Nationalrat die „immerwährende Neutralität“. Bis ins Jahr 1964 wurde am 26.10. der „Tag der Fahne“ gefeiert. Im Jahr 1965 wurde im Parlament beraten, an welchem Tag der „Nationalfeiertag“ begangen werden sollte. Zur Auswahl standen der 12.11. (Ausrufung der Ersten Republik 1918), der 27. 4. (Unabhängigkeitserklärung 1945), der 15.5. (Staatsvertrag 1955) und der 26.10. (Beschluss immerwährender Neutralität).

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