Faszination eines Untergangs: Wieso uns die Titanic immer noch so bewegt

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Eine neue Ausstellung in der Marx Halle ermöglicht es, die Titanic hautnah zu erleben. Denn auch nach 113 Jahren ist der Mythos der Tragödie ungebrochen. Eine Reise via Southampton and Belfast zur Geburt einer Legende.

Das Wasser spritzt überraschend realistisch über den Bug. Und auch das Top Deck, über das man gerade flaniert, scheint sich im Wellengang zu heben, dann wieder   zu senken, bevor es sich  in den edlen Ballroom mit der berühmten, gewundenen Prunkstiege verwandelt. 

Für die kommenden vier Monate ist die Wiener  Marx Halle nahe am Wasser gebaut. Bei der Wanderausstellung „Die Legende der Titanic“ wird die berühmteste Schiffstragödie der Welt mittels Virtual Reality und 360-Grad-Projektionen zum Leben erweckt. 600.000 Personen haben das bereits in anderen Städten ausprobiert.
 

Doch diese Ausstellung ist bei weitem nicht die einzige, die dem Desaster gedenkt. Am stärksten ist die Titanic heute  in  Belfast präsent. 

Die gelben Kräne von Harland & Wolff

Die gelben Kräne von Harland & Wolff.

Nicht nur, weil die zwei gelben Kräne der Titanic-Werft Harland & Wolff   wie riesige Krakenfüße über der Stadt thronen. Seit 2012 – zum 100. Jahrestag der Tragödie –   das umfangreiche Titanic Museum eröffnet wurde, haben mehr als neun Millionen Menschen aus 145 Ländern die nordirische Hauptstadt wegen dieser Attraktion aufgesucht – das hat Nordirland  493 Millionen  Euro an Umwegrentabilität eingebracht.

Die Urgewalt

Und auch die südenglische  Hafenstadt Southampton  wird jedes Jahr von 140.000 Titanic-Fans besucht. Sie wollen den Anlegeplatz 44 sehen, von dem die Titanic am 10. April 1912 auslief,  lernen im SeaCity Museum über die  Crew, die zum Großteil lokal angeheuert wurde, und gönnen sich vielleicht im ehemaligen Ticket Office des White Star Liner, das heute ein Pub ist, ein Pint Cider.  

Richard Howell

Der britische Professor Richard Howells forscht seit Jahrzehnten zur Titanic.

113 Jahre nach ihrem Untergang ist die Faszination an der Titanic ungebrochen. Aber warum ist das eigentlich so? Der britische Soziologe Richard Howells sieht dafür mehrere Gründe. 

„Zum einen ist es eine unglaublich schreckliche Geschichte.“ Ein menschliches Drama bedingt durch die Urgewalt  des Wetters.

Die Aufopferung

Darüber hinaus brauchte die Titanic eine lange Zeit, um zu sinken. Es gab somit eine relativ lange Zeitspanne, in der  den Menschen bewusst war, dass sie wahrscheinlich  sterben würden. „Dieses Wissen macht etwas mit uns. Wir überlegen, wie wir uns selbst  in dieser Situation  verhalten hätten.“   

Die Titanic wird damit zum Mikrokosmos, steht stellvertretend für unserer Zivilisation. Die Erzählungen der Überlebenden zeichnen ein  seltsam beruhigendes Bild von Anstand und Kontrolle – selbst angesichts der drohenden Lebensgefahr. Kein  Projekt über die Titanic kommt an der Band vorbei, die   bis zum Ende gespielt hat. In der Ausstellung in Wien kann  man ihnen mittels VR-Brille sogar beim Spielen zusehen.

Pressefotos Die Legende der Titantic

Die Ausstellung "Die Legende der Titanic" arbeitet mit VR Brillen. 

Es berührt uns, zu hören, dass  Männer Frauen und Kindern den Vortritt ließen. Dass   Arbeiter ihre Position unter Deck auch dann nicht verließen, als sich das Schiff mit Wasser füllte und ihr Einsatz die Generatoren und Pumpen  für die Passagiere am Laufen hielt.  Und dann die letzten Worte des Kapitäns: „Seid British, Boys!“ Bleibt stark!

Captain Edward John  Smith wurde besonders zum Helden hochstilisiert. In Lichfield bei Birmingham  wurde ihm sogar eine überlebensgroße Statue errichtet. „Wenn heute ein Schiff untergehen und 1.500 Personen zu Tode kommen würden – würden wir dann den Kapitän feiern?“, fragt Howells.  Die Titanic zeige also auch, wie sehr sich unsere Werte im Laufe der Zeit wandeln.

Der Mythos

Aber vielleicht am markantesten: Bei dem Vorfall verschwimmen nicht nur Fakten mit Fantasie – „Die Titanic erteilt uns auch eine moralische Lektion.“ Das Desaster wurde zur modernen Parabel, zeigt wie die Geschichte von  Ikarus oder Ödipus   die  vernichtende Konsequenz auf,  wenn sich der Mensch zum Gott erheben möchte. Ebenso wie der Mensch beim Versuch zur Sonne zu fliegen verbrennt, ist ein Ozeandampfer, der für unsinkbar erklärt wird, dem Untergang geweiht. Kein Reichtum dieser Welt macht unverwundbar. 

Titanic Pub

In Southampton gedenken auch Pubs der Katastrophe.

Und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass der Mythos die Wohlhabendsten der Welt besonders einfängt.  200.000 Euro  waren jene mit dem nötigen Kleingeld bereit, für eine  Expedition  zum Wrack der Titanic  auszugeben – bis es 2023 zu einem verheerenden Unfall kam. 

Der Milliardär Clive Palmer bastelt unterdessen an einem anderen Plan.  Der australische Geschäftsmann  möchte eine Replika bilden. Nach  einigen Stolpersteinen hat das Projekt vergangenes Jahr wieder Fahrt aufgenommen  –  Palmer ist zuversichtlich, dass die Titanic II im Juni 2027 ihre Jungfernfahrt von Southampton  nach New York unternehmen  wird. 

Doch hier stellt sich für Howells die Frage: „Ist das notwendig?“ Neben all der Fantasie, all dem faszinierenden Mythos dürfe nicht vergessen werden: Die Titanic war eine Tragödie. Zwei Drittel aller Personen  an Bord überlebten die Fahrt nicht. In Southampton  soll in jeder Straße jemand einen Angehörigen verloren haben.  „Am Ende geht es um Anstand.“ Die  Opfer der Titanic haben unseren Respekt verdient.

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