Der Workaholic in der Glasbadewanne
„Viele seiner Thesen und Anregungen sind für den heutigen Städtebau noch absolut relevant und fordern eine aktive Diskussion“, stellt August Sarnitz, Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Akademie der bildenden Künste in Wien, die Bedeutung Otto Wagners klar. Wobei: Was für ein Erbe dieser hinterlassen würde, war anfangs gar nicht so absehbar.
Denn als die Stadtmauer zugunsten der Ringstraße fiel, übte sich der junge Wagner im Historismus. Er folgte damit dem Vorbild angesagter Architekten wie Gottfried Semper, Eduard van der Nüll oder Theophil von Hansen. Richtig warm wurde er aber nicht mit den wuchtigen Prunkbauten, die sich stilistisch an der Antike, Renaissance, Gotik und Barock orientierten. Problematisch für Wagner, denn genau diese kamen bei den betuchten, nach Prestige gierenden Auftraggebern richtig gut an.
Der Wahnsinn der Ringstraße
Mit der Publikation „Einige Skizzen, Projekte und ausgeführte Bauwerke“ im Jahr 1889 findet Wagner schon bald klare Worte. Abrisswürdige „Wahnsinnsgebäude“ - so bezeichnete er darin die Bauten des Historismus.
„Ab diesem Zeitpunkt propagiert er den Nutzstil als Stil der Zukunft und argumentiert mit den neuen Anforderungen der modernen Zeit und mit den modernen Baumaterialien“, so Sarnitz, der sich in seinem Buch „Otto Wagner“ intensiv mit dessen Werk beschäftigt hat. „Stahlbeton, Eisen, Aluminium – sie sollen fortan das Bild und die Ästhetik der Architektur prägen.“
Dabei ist Wagner dem schmückenden Ornament nicht abgeneigt. Aber es reicht ihm nicht mehr, wenn der Zierrat nur schön aussieht bzw. einzig auf den Status und die Schicht des Bauherren oder der Bewohner verweist.
Für ihn hat das Ornament erst Daseinsberechtigung, wenn es sich aus einer Funktion ableiten lässt. Eine Auffassung, durch die sich Wagner radikal von anderen Jugendstil-Künstlern seiner Zeit unterscheidet.
Architekt Otto Wagner (1841–1918) schuf einige Schlüsselwerke der Moderne und entfachte um 1900 eine heftige Debatte rund um Funktionalität und Ästhetik der Großstadtarchitektur.
Sein Schaffen steht für:
einen „Nutzstil“ in der Architektur, der von Konstruktion, Material und Zweck geprägt ist. Ornament steht nicht für sich, sondern entsteht aus der Kombination dieser drei Elemente
Seine wichtigsten Bauwerke sind:
die Bauten der Wiener Stadtbahn und am Donaukanal, das Bürogebäude der Länderbank und die Postsparkasse, das Häuserensemble an der Linken Wienzeile und die Kirche am Steinhof
Bei seiner berühmten, 1906 eröffneten Postsparkasse zum Beispiel sind es übergroße Nieten, die die Marmorplatten an der Fassade festzuhalten scheinen. Material und Bauelemente werden damit selbst zum Ornament.
Über den Jugendstil findet Wagner so den Weg in die funktionale Sachlichkeit. Eine Entwicklung, die für Sarnitz sehr konstant ist, „innerhalb weniger Jahre führt sie zu radikalen Bauten wie der Postsparkasse oder der Kirche am Steinhof.“
Und wohin er will, weiß Otto Wagner schon bald. Als er 1894 eine Professur an der Akademie der bildenden Künste annimmt, drückt er seinen Schülern sein Buch „Moderne Architektur“ in die Hand. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass der Begriff ,modern’ im Zusammenhang mit Architektur verwendet wird.
Seitdem sprechen wir von moderner Architektur – seit Otto Wagner. Es wird zum Gründungsmanifest für die Architektur des 20. Jahrhunderts“,
Schon bei der ehemaligen Länderbankzentrale aus dem Jahr 1884 sucht er nach der perfekten Synthese aus Funktionalität und Ästhetik. Passend zu den neu hinzugekommenen Funktionen eines Bankgebäudes setzt Wagner auf neue Materialien: Im Erdgeschoß ist der Fußboden aus Glas, der den Keller belichtet. Glasdecken und Leichttrennwände verwandeln das Haus in eines der „innovativsten Bürogebäude der damaligen Zeit, in Europa und weltweit“, so Sarnitz. „Vergleichbare Gebäude gab es hinsichtlich Konstruktion und Materialien nur in Chicago.“
Bei der Umsetzung spielen Glas und Stahl eine Rolle: „Wagner selbst spricht von Licht und Luft, von der Flexibilität der Räume, die entsprechend dem Gebrauch verändert werden können.“
Dass sich Wagners Nutzstil nicht nur Büros überstülpen lässt, beweist die Steinhof-Kirche am oberen Ende des Spitalsareals.
Hoch und heilig
Mit ihrer Kuppel aus vergoldetem Kupfer und der unter dem Gesims angebrachten Zierleiste aus Kreuzen und Lorbeerkränzen gilt die Kirche am Steinhof als das bedeutendste Bauwerk des Wiener Jugendstils. Nur das Secessionsgebäude des Architekten Joseph Maria Olbrich kann ihm hier Konkurrenz machen.
Was Wagner hier entgegenkommt, ist, dass der Auftrag nicht von der Kirche, sondern von der Stadt Wien kommt. In Bezug auf die Architektur gibt es keine Vorbehalte. Zwar passt sich Wagners Bau an die Traditionen des Kirchenbaues an – vor allem durch die Kuppel – , verankert ihn aber in seine eigene Gegenwart.
Zumindest dem Wiener Erzbischof Piffl scheint der Bau gefallen zu haben. Sarnitz erinnert an dessen Worte bei der Einweihung des Altarbildes: „Ich kann nur das eine sagen, dass ich, als ich die Kirche betrat, förmlich gepackt wurde von der Monumentalität des Baues; es überwältigte mich das Gefühl: Das ist wirklich ein heiliger Ort.“
Wagner hat also durch Licht, Transparenz und Sachlichkeit Monumentalität entstehen lassen – bis dahin das Wesensmerkmal des Historismus. Allerdings will nicht jeder seiner Zeitgenossen diese Monumentalität erkennen.
Als die Kirche 1907 feierlich eröffnet wird, ist der große Star-Gast, Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, entsetzt. Ihm fehlt jegliches Verständnis dafür, dass sich Wagner beim Bau der Kirche von so praktischen Fragen wie Beheizung, Belüftung, Beleuchtung, Hygiene und nicht zuletzt von der Sichtbarkeit des Priesters leiten ließ.
Selbst Koloman Mosers Glasmosaike sind erst einmal so konzipiert, dass sie den Innenraum der Kirche optimal mit Tageslicht durchfluten. Wiedererkennbare Elemente aus dem gotischen oder barocken Kirchenbau sucht der Erzherzog da vergebens.
Die Nüchtern- und Geradlinigkeit, die Wagner als Architekt so vehement verteidigte, vertrugen sich weniger mit den Irrungen und Wendungen seines Privatlebens. Er hatte mit drei Frauen sieben Kinder, wobei er nur mit seiner zweiten Gattin glücklich werden sollte.
Nach einer Beziehung zu Sophia Paupie heiratete er die Juwelierstochter Josefine Domhart – auf Drängen der Mutter, die seit dem frühen Tod des Vaters sein Ein und Alles war. Seine Muse fand er aber in Luise Striffel, mit der er schon während seiner Ehe mit Josefine ein Verhältnis hatte. Erst als Wagners übermächtige Mutter tot war, traute er sich, die Scheidung einzureichen und Luise zu heiraten.
Ihr galt seine ganze Liebe, sie verehrte er ebenso kultisch wie zuvor die Mutter. Als Luise starb, zog sich Wagner vom Leben weitgehend zurück und schrieb ihr weiterhin, wie zu ihren Lebzeiten, jeden Tag einen Brief. Am 11. April 1918 starb er 76-jährig an Rotlauf.
Selbst das Weihwasserbecken ist alles andere als gewöhnlich: Wagner, der sich – damals eher untypisch und fast besessen – mit dem Thema Hygiene in der Architektur auseinandersetzt, hat eines entworfen, bei dem Wasser von oben herabtropft, um das Infektionsrisiko zu verringern.
Die Modernität der Steinhof-Kirche führt so bei der Eröffnung 1907 zu einem veritablen Eklat - und bleibt für Otto Wagner nicht ohne Folgen. Danach bekommt er keine großen, bedeutenden Aufträge mehr. Viele seiner Ideen sollen daher genau das bleiben: unrealisierte Visionen.
Wenn man in seinem Lebenswerke blättert, könnte man vor Wut weinen, dass diese herrlichen Gedanken, nicht zur Ausführung kamen und welche Entwürfe den seinen vorgezogen wurden“,
Und Loos sagt noch mehr: „Überall triumphierte die Mittelmäßigkeit über den Künstler“.
Wohnen und baden
Wagner zeigt aber auch beim Wohnbau auf. Ausgestattet mit Badezimmer, elektrischer Klingel und Aufzug – neumodischer geht es damals kaum – versetzen die Häuserensembles an der Linken Wienzeile und in der Köstlergasse die Wiener ab 1899 ins Staunen.
Für das sogenannte Majolikahaus entwirft er eine Fassade aus ornamentalen (aber im Gegensatz zum Historismus betont flächigen) Fliesen – auch mit dem Hinweis, dass diese gut zu reinigen wären. Edler wirkt da das Nachbarhaus mit dem goldenen Fassadenschmuck von Koloman Moser.
Am schlichtesten ist das Gebäude in der Köstlergasse, in dem Wagner selbst eine Zeit lang wohnt – und in der auch seine berühmte, heute verschollene Glasbadewanne zuletzt gesehen wird. „Die damaligen Hygiene-Verhältnisse in den Städten sind aus heutiger Sicht fast nicht mehr fassbar und auch die Wanne war Wagners Versuch, Transparenz und Sauberkeit zu zeigen“, erklärt Sarnitz. „Seine Hygiene-Maßstäbe waren mit ein Grund für die überragende Position, die er als Stadtplaner einnehmen konnte.“
Wagners Erbe
Sarnitz wird nicht müde, das Neue in Wagners Denkweise zu betonen:„Er war intelligent genug zu sehen, dass sich auch das ,Moderne’ laufend verändert und sich damit die Architektur verändern muss. So entsteht eine permanente Entwicklung, eine Evolution der Architektur – keine Revolution. “
Angesichts der durch die Industrialisierung unkontrolliert wachsenden Städte widmete sich Wagner 1911 einer Studie zur "Großstadt der Zukunft". Dabei propagierte er nicht nur ein engmaschiges öffentliches Verkehrsnetz, sondern legte auch eine Art Grundriss vor, der es ermöglichte, dass Städte gleichsam unendlich groß werden konnten.
Sein funktionaler Plan mit geraden Straßenzügen, sieben- und achtstöckigen Häusern, Grünzonen und offenen Plätzen bezog sich dabei auf einen damals noch imaginären 22. Bezirk in Wien. Seine Studie sollte weltweit Einfluss auf den Städtebau des 20. Jahrhunderts nehmen. Das Schachbrettmuster kennt man etwa nur zu gut von nordamerikanischen Großstädten wie New York
Zudem plädierte Wagner stets für eine Politik, in der die Stadtplanung proaktiv als Unternehmer auftritt und Wohnungen, Schulen, Kulturbauten und Infrastruktur vorausschauend plant und baut. Und das war notwendig: Mit mehr als zwei Millionen Einwohnern war Wien damals die fünftgrößte Stadt der Welt.
Wiener Stadtbahn
Architektur und Design der 1898 eröffneten Wiener Stadtbahn stammen von Otto Wagner. Als eines der größten Bauprojekte im damaligen Europa sollte es das Wiener Stadtbild nachhaltig verändern.
Am Stadtbahn-Projekt ist ein besonderer Mitarbeiter im Büro Wagner beteiligt: der junge Joseph Maria Olbrich, Architekt des Seccesions-Gebäude. Die Ornamente bzw. viele Detailpläne der Stadtbahn-Bauten dürften von ihm stammen. Im Bild: der als Station geplante Pavillion am Karlsplatz.
1899 eröffnet der Hofpavillon, ein separates Aufnahmsgebäude der Stadtbahn für Kaiser Franz Joseph I in Hietzing. Hier bedient sich Otto Wagner noch imperialer Stilelemente, auf die er im Lauf der Zeit immer mehr verzichtet.
In seinen Plänen berücksichtigt Wagner stets die Technik und das moderne Leben.
„Das war ein Turning point: Von da an geht es nicht mehr um eine ästhetische Stadtplanung, die die Menschen ’beglückt’, sondern um den praktischen Nutzen“, so Sarnitz.
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