Wo Wien am wienerischsten ist
Baba, schwimm heim zur Mama!“ Vorsichtig lässt Herr Franz den enormen Karpfen ins Wasser gleiten. Mit einem satten Platschen trifft der Fisch auf, dreht sich unter Wasser einmal um die eigene Achse und verschwindet zwischen den Wasserpflanzen. 19,8 Kilo wiegt das Prachtexemplar von Spiegelkarpfen, das Herr Franz an seinem Stammplatz nahe der Kagraner Brücke an diesem Freitagnachmittag geangelt hat. „16, 17 Jahre ist der bestimmt schon alt“, meint der Angler. Und offenbar ziemlich unerschrocken. Dass gleich nebenan die U1 und
Autos vorbeirauschen stört ihn nicht. Auch dass Horden von jungen Burschen in überfüllten Elektrobooten mit wummernden Gettoblastern vorbeischippern und Segeljollen kreuzen, hat den Riesenkarpfen nicht vertrieben.
Die Alte Donau ist Lebensraum für gut 20 Fischarten. Sie heißen Rotfeder, Karausche, Grundel, Aitel, es gibt Welse, die bis zu 80 Jahre alt werden können, Hechte und eben Karpfen. Auch dank Anglern wie Herrn Franz, die die Fische leben lassen. „Es gibt Karpfen, die hab ich schon drei Mal gefangen“, sagt er. Woran er sie erkennt? An ihren charakteristischen Schuppenmustern beispielsweise. Vielleicht trifft er ja diesen üppigen Burschen nächste Saison auch noch einmal.
Dass die tierischen Bewohner der Alten Donau wenig Scheu vor Menschen haben, lässt sich auch im größten Strandbad, dem Gänsehäufel, beobachten. Immer dann, wenn ein Badegast zaudernd auf der Treppe am Südstrand steht, und sich nur laaangsam ganz ins Wasser wagt. Stammgäste warten schon gespannt auf das folgende Schauspiel: Ein spitzer Schrei und ein ungelenker Sprung. Auskenner beruhigen den Erschrockenen, lächeln ein wenig süffisant und sagen, „Ja, ja, der Piranha“: Ein harmloses Fischlein, kaum länger als zehn Zentimeter, brütet unter der Treppe und verteidigt seinen Platz gegen allzu aufdringliche Besucher. Hartnäckig und mit Erfolg. Zumeist kommen Tier und Mensch an der Alten Donau jedoch gut miteinander aus. Für beide ist der Donau-Altarm, der bei der Regulierung in den 1870er-Jahren entstanden ist, ein wichtiger Lebensraum.
Sommers in den Bädern. Jedes für sich ein ganz spezielles Biotop. Das Gänsehäufel ist das wohl bekannteste, das über eine Brücke vom Festland Kaisermühlen erreichbar ist. Neben den älteren Kabanen- und Kabineninhabern, die sich im Schatten der alten Pappeln meist fernab vom Wasser ihre Stammplätze gesichert haben, konzentriert sich die junge „Laufkundschaft“ rund um den Gänsehäufel-Hotspot Wellenbecken.
Wer einmal einen Badeplatz als seinen Lebensraum erkoren hat, der bleibt ihm treu. Jahrzehntelang. Es gibt Paare, die haben einander im Bundesbad kennengelernt. Vorne, beim Wasser auf der großen Wiese. Später, als man gesettelt war, wurde die Saisonkabine gemietet, das Kind wuchs quasi im Bad auf: Die Schulaufgaben wurden an einem wackeligen Campingtischchen geschrieben, das warme Mittagessen wurde in einem Speisethermos mitgenommen und man kannte alle Schrullen der Kabinennachbarn. Die stämmige Drogeriebesitzerin, die vier Mal täglich zum Wasser watschelte, eine Runde schwamm und das danach stets mit dem Wort „Prachtvoll!“ kommentierte. Die älteren Herrschaften, die sich nachmittags zum Mittagsschläfchen zurückzogen. „Pssssst“, wurden da die Kinder ermahnt. Das Bad war Ersatz des nicht vorhandenen Balkons oder Gartens – und Regen- oder Gewitterwolken waren kein Hindernis, trotzdem bis zum Zapfenstreich auszuharren – bis das Trompetensolo „Il Silenzio“ aus vielen Lautsprechern das ganze Bad beschallte. Wenn notwendig, zog man sich halt unter die überdachten Duschen zwischen den Kabinen zurück, eingehüllt in einen wärmenden Frottee-Bademantel.
Die Alte Donau als Lebensmittelpunkt. Und als Treffpunkt für alle, die für ihr Freizeitvergnügen kein Geld ausgeben wollen oder können. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Seen des Landes ist der Großteil des 17 Kilometer langen Alte-Donau-Ufers nicht in Privatbesitz, sondern öffentlich zugänglich. Sei es – siehe oben – als Strandbad, oder überhaupt gratis.
Wildbadeplätze gibt es jede Menge: Elf Badestege, von denen man ins Wasser abtauchen kann, dazu die großen Liegewiesen am Kaiserwasser, am politisch korrekt benannten ArbeiterInnenstrand, der an Stelle des früheren Arbeiterstrandbades errichtet wurde, in der Strombucht am Dampfschiffhaufen am südlichen Ende oder am Dragonerhäufel vulgo Lagerwiese Romaplatz im Norden, zwischen Angelibad und Hundewiese. An Wochenenden, aber auch an Feiertagen rücken Großfamilien mit Decken und riesigen Kühltaschen an, aus denen Unmengen von Lebensmitteln geholt werden. Und wacker gegen Schwäne und Enten verteidigt, die so wenig Scheu vor Menschen haben, dass sie auf ihrer Nahrungssuche ungeniert über die Decken watscheln und sich auch durch die vor Schreck kreischenden Kinder nicht vertreiben lassen.
Ein paar private Paradiese gibt es aber dennoch an der Alten Donau. Wer eines der kleinen Häuschen am Wasser durch Erbschaft oder ein anderes gütiges Schicksal ergattert hat, gibt es so schnell nicht mehr her. Sogar um die Hütten in der dritten Reihe ohne direkten Wasserzugang herrscht rege Nachfrage.
Ganz nah am Wasser liegen natürlich die beiden kleinen Yachtklubs. Den Wiener Yachtklub und den Klub Seewind. Wer sich jetzt einen exklusiven Verein vorstellt, liegt ziemlich falsch. Über eine steile Stiege klettert man von der Oberen Alten Donau hinunter zum Yachtklub Seewind. Eine Hütte, ein Steg, ein paar Boote mit perfektem Blick auf Arbeiterschwimmverein und
Donauturm.
Diesen Blick genießt Herr Siegi, Oberbootsmann des Clubs, stets ein stärkendes Getränk griffbereit. Auch für ihn gibt es kein schlechtes Wetter, sondern nur die falsche Kleidung. Wenn man mit einem Boot vorbeipaddelt oder rudert, wird man ihn an den meisten Tagen des Jahres dort sitzen sehen. Und wenn man höflich grüßt, darf man möglicherweise auf einen G’spritzten vorbeikommen. Segeln ist sowieso ein großes Thema auf der Alten Donau. Beispielsweise beim Hofbauer. Generationen von Seglern haben hier ihren Grundkurs absolviert. Wer jetzt die Nase rümpft, soll sich nicht täuschen. Der Wind, der in der Umgebung von
Wiens Skyline auf der Donauplatte entsteht, dreht dauernd und kann ganz schön hinterhältig sein. „Wer hier auf einer der Jollen segeln gelernt hat, der kann es wirklich“, ist die Chefin überzeugt.
Heute ist die Alte Donau ein funktionierendes Naturparadies, auch wenn manche Schwimmer über die Wasserpflanzen, die sie am Bauch kitzeln, klagen. Tatsächlich sorgen diese Pflanzen für gute Wasserqualität. Damit sie nicht überhand nehmen, befahren spezielle Mähboote das Wasser, die die Pflanzen zweieinhalb Meter unter der Wasseroberfläche abschneiden. Ihnen folgen Sammelboote, die den Grünschnitt ans Ufer bringen, ehe er auf eine Deponie verfrachtet wird. Bis zu 1.200 Tonnen pro Jahr sind das.
Noch in den 1990er-Jahren war es um die Wasserqualität schlecht bestellt: Überdüngung ließ Algen sprießen, das durch den Bau der Donauinsel entstandene Entlastungsgerinne brachte den Grundwasserhaushalt durcheinander. Mittlerweile wird der Wasserspiegel im Frühjahr um zwanzig Zentimeter abgesenkt, damit sauberes Grundwasser nachfließen kann. Und obwohl jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen die Alte Donau besuchen, wachsen Seerosen im Wasser und am Ufer gedeihen Schwertlilien und Schilf.
Alle paare Jahre entsteht allerdings doch hochsommerliche Aufregung. Besorgte Menschen geben Quallenalarm. Tatsächlich entwickeln sich bei einer Wassertemperatur um die 25 Grad Süßwasserquallen, etwa so groß wie eine Zwei-Euro-Münzen. Sie sind allerdings harmlos und ihre Nesseln können Menschen nicht gefährden. Und die Fische schon gar nicht. Sonst wäre Herrn Franz das Anglerglück nicht so hold. Wenn er an seinem Stammplatz auf den nächsten
Karpfen wartet.
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