Kleine Sommerserie 2014: Dichten in Wien (4)

In einen Fluss, Bach, Brunnen, Teich oder Altarm schaut es sich leichter als ins eigene Halbbewusste.

Wo dichten Sie am allerliebsten? – Am Wasser. – Und an welchem? – Fast an jedem. Zur Not reicht der Sisi-Brunnen im Volksgarten, der kann ja überhaupt einiges. Meine Mutter erzählt noch heute, wie sie als junges Mädchen ihren Kummer immer symbolisch dort hineinschmiss und tatsächlich mit leichterer Seele fortzugehen pflegte. Zur Dichterei am Wasser ist das gar nicht so ein Riesenunterschied, nur funktioniert diese in die andere Richtung. Das Gewässer, das sich Dichterin oder Dichter gewählt haben, stellt ja nichts anderes dar, als eine Auslagerung, eine Projektion der eigenen Gedanken– und Gefühlsströme ins Faktisch-Natürliche. Wie große oder kleine, gemächliche oder blitzschnelle Fische ziehen in diesen Strömen nämlich die künftigen Produkte unserer Dichtung vorüber. Und in einen Fluss, Bach, Brunnen, Teich oder Altarm schaut es sich leichter als ins eigene Halbbewusste. Bei mir jedenfalls gilt das. Drum schreib ich am liebsten am Wasser. Ich habe innerlich eine Karte aufgehängt, auf der meine Lieblingsgestade in der und um die Stadt eingezeichnet sind: Vom oberen Weidlingbach über die Donau wahlweise bei Orth oder Kritzendorf, über die Panozzalacke, die Untere Naufahrt und den Donau-Oder-Kanal, bis hin zu Pappel- oder Hanslteich. Aber auch an den steinigen Ufern von Donaukanal und Wienfluss entwich mir schon Poesie. Natürlich muss man sich halbwegs kommod einrichten. Es gilt den geeigneten Sitzplatz zu finden. Wählt man ein bereitstehendes Bankerl? Breitet man die Picknickdecke aus? Erklimmt man den Stamm eines gefallenen Urwaldriesen, etwa am Altarm? Ich gestehe, dass mir der Altarm der liebste Wasserschreibplatz ist. Der Altarm ist das Bayou des Wieners. Scheinbar stehendes Wasser, ist er als ein mit dem Strom unterirdisch verbundener Cousin doch ständig in Bewegung. Der frühlingshafte oder auch hochsommerliche Altarm ist ein von vielen wunderbaren Tieren gern besuchter Ort, wegen seiner hohen Gelsendichte aber meiden ihn die Menschen. Hab’ ich ein Glück, dass Gelsen, die von mir trinken, mir relativ wurscht sind. Da sitze ich nun, und das Wasser steht und bewegt sich doch, so wie die Dichtung in mir.

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