Sus scrofa

Ich hatte nicht mehr an sie geglaubt, an die Wildschweine im Lainzer Tiergarten. In der gymnasialen Unterstufe pflegte mein höchst sympathischer Klassenvorstand, ein Biologe namens Imre, Wandertage im Lainzer Tiergarten abzuhalten, auch aus Eigenliebe, denn er wohnte in Ober Sankt Veit. Aber nie, nie, nie sahen wir ein Wildschwein. Ich, der ich damals bereits Asterix-Abhängiger war, hätte mich so darauf gefreut, auf Sus scrofa oder auch Singularis porcus, wie Obelix sagt. Aber da war nichts. Niemals.
Ein einziges Mal, da war ich ganz frisch in die Liebste verliebt, ging ich mit ihr und ihrer ältesten Freundin beim Hirschgstemm spazieren. Da sah ich hinter einem Zaun ein Wildschwein oder glaubte es doch zu sehen: einen Riesenkeiler. Machte ich einen Schritt nach links, machte er auch einen, ging ich nach rechts, folgte er mir.
Heute, bald zwanzig Jahre später, weiß ich nicht mehr genau, ob ich den Keiler wirklich gesehen habe. Ich meine, ich lebte damals, na ja, nicht immer gesund, und meiner Wahrnehmung war nicht durchgehend zu trauen. Wer weiß, sah ich in diesem Keiler mich selbst, eine Art Lainzer Totem, etwas wozu ich erst noch werden musste?
Letztes Wochenende aber, als wir mit meiner Mutter, meinem Bruder und der Schwägerin vom Sankt Veiter Tor zum Rohrhaus gingen, traf ich sie. Es waren vier auf unserer Wanderung, aber jedes von ihnen ging allein. Die ersten waren so Halbstarke, das nächste war einen Kindersteinwurf entfernt und rieb sich an einem Baum. Aber als wir schon am Rückweg waren und die Dämmerung zart auf den Wald kam, da sahen wir das vierte. Mein Bruder, der Zweit- und die Drittgeborene und ich, waren hinter der restlichen Gruppe zurückgeblieben, brodelten blödelnd einen Hohlweg hinunter. Da stand er, oben auf der Böschung. Der Riesenkeiler. Er wühlte ein bissl im Waldgrund herum und schaute uns nacheinander in die Augen. Aber er ging nicht weg. Wir hätten die Nacht bei ihm verbringen können. Aber das ging nicht, meine Mutter musste in den Musikverein. So zog ich den Hut, und der Keiler machte ein dumpfes Geräusch. Ich bin zufrieden. Ich gehe jetzt davon aus, dass ich groß und reif genug bin, um in Lainz mein Totem zu treffen.

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