Stirner
Sachen passieren, und dazu spielt die Musik. Die Familiengrippe hat Erdberg im Griff. Hier wird von den nobleren Familienmitgliedern geräuspert, geschnupft und geschnäuzt, derweil die Barbaren husten, Rotz aufziehen und Schleim bewegen. Manchmal aber kommt die Familie zur Ruhe, und dann hören wir den Soundtrack dieses leicht angekränkelten und doch schönen Herbstes: „Schichten“, das neue Album von Karl Stirner. Stirner ist der Houdini, der Entfessler der Wiener Zither. Der lebende Schutzpatron dieses so tief in unserem Unterbewussten begrabenen und vielfach missbrauchten Instrumentes, das der Österreicher oft als erstes Geräusch des Tages hört, wenn er nämlich erwacht und im ORF die Wetterkamera aufdreht. Aber der Stirner macht ganz andere Sachen mit seinem Werkzeug: Er hat die Zither erst bezwungen, dann befreit, dann erneuert. Stirner ist an dieser Stelle schon vorgekommen. Vor mehr als einem halben Jahrzehnt, als er das letzte Mal etwas veröffentlicht hatte, das unglaubliche schöne „Tanz“, zusammen mit Walther Soyka, ein herzensberührendes und doch hochmodernes Album mit uralter Wiener Instrumental-Volksmusik. Und jetzt gibt es die neue Stirner. Wieder ganz was anderes. Stirner und seine Zither sind inzwischen ins Waldviertel gegangen, dort ist „Schichten“ entstanden, ein Solowerk. Zarte Wellen aus Obertönen branden auf, gleich im ersten Stück tickt eine Uhr, und darüber „spielt“ die Zither weniger als sie spricht, konferiert, mit dem Universum in Dialog tritt. „Die Musik ist so, als würde gleich was passieren“, sagt meine Tochter, die, ähnlich krank wie ich, neben mir am Schreibtisch sitzt und Stirner hört. Sie hat Recht: Bei dem Stück „idealer heuriger“ stellen sich mir die Haare auf, bei „nachtlokal“ gerate ich in Bewegung, ja, irgendwas wird passieren. Karl Stirner kenne ich seit 25 Jahren. Er hat die einzigartige Qualität, dass man mit ihm im einen Moment ernsthaft über die letzten Dinge sprechen kann, im nächsten Augenblick aber schon wieder den ärgsten Blödsinn machen. Leider ist er so selten da. Aber ich hab ja die neue Platte. „walzer in moll“ ist übrigens mein Lieblingsstück.
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