Schritt für Schritt ins Glück
Die Erde ist mit einem Netz überzogen. Millionen Kilometer lang sind seine Fäden. Keinem Menschen wird es je gelingen, all diesen Fäden zu folgen. Nein, hier geht es nicht ums Internet, nicht ums Mobilfunk-Netz. Auch nicht um soziale und asoziale Netzwerke aller Art. All jene Netze schaffen Abhängigkeiten. Hier geht es hingegen um ein Netz, das uns wegführt von diesen Abhängigkeiten, das uns befreien kann von den Zwängen des Alltags, wenn wir es zulassen. Hier geht es um ein unüberschaubares Netz von Wanderwegen. Viele davon sind kultige Trampelpfade, die Massenbewegungen über sich ergehen lassen müssen, andere sind so einsam, dass man keinem Menschen begegnen wird. Es gibt Wege, deren Bewältigung ein Kinderspiel ist. Andere fordern den Wanderern alles ab: Ausdauer, Schwindelfreiheit und Mut.
Stubaitaler Höhenweg, Österreich
Stubaital – ohne Ski! Ankunft Bergstation Schlick 2000: Zuerst sind da noch die blassen Plakate vom Winter, doch dann geht es über den Hohen Burgstall auf 2.600 Meter. Die Kraxelei erfordert Konzentration. Und diese fällt nicht leicht, denn der Blick über das Stubaital, über die endlose Weite jenes Weges, den ich mir für die nächsten Tage vorgenommen habe, ist atemberaubend. Oberhalb des Ortes Fulpmes beginnt dieses Abenteuerstück vor gigantischer Kulisse: Die starken 3.000er Habicht und Zuckerhütl dominieren den Stubaitaler Höhenweg. Wer ihn jedoch mit dem Aufstieg auf die 2.700 Meter hohe Serles beginnt, macht auch keinen Fehler: Das ist jene zackige Berggestalt, die von Innsbruck aus im Süden allgegenwärtig ist. Kein Meter des Stubaier Höhenweges ist langweilig, nur an der Größe der Hütten kann man abschätzen, dass die Idylle im Winter begrenzt ist. Warnungen der Hüttenwirte sind auch im Sommer wertvoll: Größe und Gefährlichkeit der zu überschreitenden Schneefelder sind sehr unterschiedlich.
Sie wollen bei den echten Bergsteigern mitreden können? Gut, dann nehmen Sie den Piz la Stretta in Angriff. So billig werden Sie kaum mehr einen echten 3.000er bekommen! Allerdings ist der Okkasions-3.000er bei Livigno nur im Hochsommer wirklich sicher, da sonst für eine Wanderung zu viel Schnee liegt. 3.104 Meter ist er hoch, doch er bietet mehr als diese Zahl: Es ist sehr wahrscheinlich, einer sehr großen Kolonie von Steinböcken zu begegnen. Und der einzige 4.000er der Ostalpen, der Piz Bernina, ist auf dem vierstündigen Aufstieg allgegenwärtig.
Haben Sie schon einmal an einem Orientierungslauf teilgenommen? Sie täten sich hier leichter. Sie sind hier zwar auf einer Insel, auf der man notfalls die Küste suchen und finden kann, aber diese Insel ist sehr groß. Auf einem Parkplatz an der Straße zwischen Marina di Arbus und Monte Vecchio beginnt diese fantastische Gratüber- schreitung. Nach zwei Stunden schon hat man den Höhepunkt erreicht: 784 Meter hoch ist der Monte Arcuentu. Doch erst jetzt beginnen die Schwierigkeiten: Bizarre Steinformationen, wild gezackte Felsen, ein Slalom zwischen vielen Hindernissen durch ein Labyrinth, Steine und Pflanzen schimmern in allen Farbschattierungen. Sieben, acht, vielleicht sogar zehn kleine Gipfel liegen auf dem Weg zurück zur Landstraße. Der letzte Hügel heißt Cuccuru und ist der sanfteste von allen. Man muss sieben Stunden kraxeln wollen. Nicht klettern, aber kraxeln! Und wenn man dann keinen freundlichen Menschen findet, der einen per Autostopp zurück zum Parkplatz bringt, hat man Pech. Ich finde einen. Einen Bauern mit Pickup Truck. Auf dem Beifahrersitz hockt sein dicker Bruder. Der kann gar nicht zur Seite rücken. Ich lande auf der Ladefläche und erzähle einem Schaf von meinen Blasen auf den Füßen.
Der alte Braunbär wird sich hüten, den Touristen zu nahe zu kommen, denn jene sind in der Überzahl. Zwar wäre jeder einzelne aufgrund des teilweise skandalösen Schuhwerks leichte Beute, doch in Anbetracht des Lärms, lässt Herr Bär lieber die Pranken davon und verzieht sich in die Wälder der umliegenden Berge. Medvedak (Bärenberg) heißt der höchste von ihnen mit seinen 888 Metern. Dort ist er allein. Fast allein, denn hier findet man auch als Wanderer jene Ruhe, die man am touristischen Hotspot der Plitvicer Seen niemals finden wird. Ich muss die anderen Touristen ausblenden mit ihren Plastikschlapfen und Stöckelschuhen. Ich bin ja auch nur einer von ihnen. Doch es hat Gründe, warum sie alle hierher kommen, als gäbe es kein anderes Naturwunder auf diesem Planeten: Es zahlt sich aus, jedem einzelnen der weit verzweigten Wege zu folgen. Im Frühjahr hat man besonders viel davon, denn dann sprudeln die Wasserfälle, die Bäche, die Stromschnellen dieses auf mehreren Geländestufen liegenden Naturwunders. Das Wasser leuchtet türkis, kommt man jedoch näher, sieht man bis zum Grund. Der Wald strahlt in hellem Lindgrün, in der Gischt bilden sich kleine Regenbögen, und… ich entspreche hoffentlich nicht Herrn Medveds Beuteschema.
GR 10 – das ist die Zauberformel. Ein Fernwanderweg vom Atlantik zum Mittelmeer quer durch die gesamten Pyrenäen. Jeder kann sich ein passendes Stück davon aussuchen. Und ja, es gibt auch welche, die den gesamten Weg auf einmal zurücklegen. Meist sind das Aussteiger oder Menschen, die einen Wendepunkt in ihrem Leben hinter sich haben und verarbeiten müssen. Fast zwei Monate braucht man für so ein Unterfangen. Der GR 10 ist ein Pilgerweg ohne religiöse Motivation. Und das Spiel der Sonnenstrahlen zwischen den alten Buchen ist auch an der Stelle nicht greller, an der er den viel berühmteren Jakobsweg kreuzt. Dann öffnet sich das Blickfeld: Col d'Ayous (2.185 Meter) und Pic du Midi d'Ossau (2.884 Meter) mit ihren leuchtenden Schneeflecken beherrschen die Gegend. Zwei Giganten, doch die Konzentration gilt nicht ihnen, sondern dem Chemin de la Matûre, einem schmalen, in den Felsen gehauenen Steig am Rande der Höllenschlucht. Pfeifende Murmeltiere, Hütten ohne Handy-Empfang, Raubvögel, die sich von der Thermik ohne einen einzigen Flügelschlag in 300 Meter Höhe tragen lassen. Schwindelfreiheit – ja, die braucht man zeitweise. Und die uneingeschränkte Bereitschaft zu gehen und sich dabei gehen zu lassen.
Der Nebel war so dicht, dass ich den Rucksack des Vordermannes nur als wackeligen Farbfleck wahrnehmen konnte. Plötzlich fanden die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch diesen Berg aus Schlagobers, der Himmel wurde blau und der See lag einfach da im grellen Licht. Die letzten Wolkenfetzen verzogen sich in Sekunden wie Gespenster, die vor dem Tageslicht flüchten. „Kann es einen schöneren Ort auf der Welt geben?“, war mein erster Gedanke. Und bis heute habe ich noch keine Antwort auf diese Frage. Die Wolayerseehütte als Höhepunkt einer mehrtägigen Bergtour auf historischen Pfaden. Ein Weg des Friedens entlang einer der sinnlosen Frontlinien des ersten Weltkriegs. Der Große Kinigat als bergsteigerische Herausforderung zwischendurch, ein kurzer Abstieg in einen italienischen Märchenwald und schließlich der Steinkoloss namens Seewarte, der Wolayersee, ein kleines Stück Gletscher und schließlich diese Hütte.
Das Hochkreuz, immerhin 2.701 Meter hoch, hätte sich ein schöneres Gipfelkreuz verdient als eines aus zwei Baustahlrohren. Doch andererseits: für wen denn? Es gibt kaum einen Ort in den Ostalpen, der so weit weg ist von der nächsten Siedlung. Die Einsamkeit, die Stille und ein Sternenhimmel, der nicht von den Lichtern einer Stadt beeinträchtigt wird: Das sind die Trümpfe der mehrtägigen Tour durch die Kreuzeck-Gruppe an der Grenze zwischen Osttirol und Kärnten. Eine Wanderung, die trotzdem spektakuläre Überraschungen zu bieten hat: Nach einer Übernachtung im Biwak-Zelt bei den malerischen Vierzehn Seen kann es sein, dass man inmitten einer Schafherde aufwacht.
Das Schutzhaus heißt zwar Rifugio degli Alpini, doch wir befinden uns im Zentrum des Apennins, der von Alpen-Bergsteigern mitunter belächelt wird. Es wird Zeit, Respekt zu bekommen vor diesem bemerkenswert spektakulären Gebirge. Die Tour zum Monte Vettore (2.476 m) bietet sich dafür an. Wer auf den gut vier Stunden des steilen Aufstiegs zu fluchen beginnt, sollte dies leise tun. Denn es ist noch nicht erwiesen, ob der Teufel nicht tatsächlich im Lago di Pilato wohnt. Dieser Aberglaube war einst jedenfalls so intensiv, dass die Kirche eine Mauer um den See errichten ließ. Die Mauer ist inzwischen gefallen, die Westwand des Vettore ist beeindruckend genug. Und die Geschichte mit dem Ochsenwagen, auf dem der Leichnam von Pontius Pilatus transportiert worden sein soll, ehe das Gespann eben in diesen See stürzte… Na ja, genießen Sie lieber die Landschaft, an guten Tagen dazu noch einen bestechenden Meerblick.
Es ist beklemmend, wie blöd die Menschen sein können: Tausende Soldaten ließen auf dem Plateau am Fuße eines dreifachen Naturwunders während des Ersten Weltkriegs ihr Leben. Verfallene Stellungen und Mahnmale zeugen noch heute von diesem Irrsinn. Trotzdem wird kein Wanderer auf die Idee kommen, die drei Zinnen als Grabsteine zu betrachten. Angestrahlt von der Sonne leuchten sie in allen Farben. Und die endlosen bunten Karawanen von Wanderern hauchen diesen drei Zähnen der Zeit ständig neues Leben ein. Einsamkeit wird man auf dem Weg von der Zsigmondyhütte zur Dreizinnenhütte nicht finden. Wer sie trotzdem sucht, sollte auf den Toblinger Knoten klettern und von dort aus – möglichst stundenlang – den Frieden genießen.
Fassen Sie sich ein Herz! Gut 1.700 Höhenmeter am Stück sind keine Kleinigkeit. Um fünf Uhr Früh sollten Sie aufstehen. Was das mit Urlaub auf Korsika zu tun hat? Die Antwort bekommen Sie nach fünf Stunden in 2.622 Metern Höhe auf dem Monte Rotondo, dem zweithöchsten Gipfel der Insel. Der Ausblick ist ein Abenteuer. Der Monte Cinto, der König der korsischen Berge, beherrscht den Horizont. Das romantische Refuge de Petra Piana ist Ausgangspunkt für weitere Wanderungen und sollte zumindest für drei Tage als Stützpunkt dienen. Von hier aus kann man die Kaskadenserie des Manganello-Bachs, den sanften Melosee mit den Wiesenmatten und den schönsten See Korsikas, den spektakulären Capi- tellosee, in fast 2.000 Metern Höhe erobern.
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