WALD DER WUNDER

Urwaldrest
Bäume sind soziale Lebewesen, die miteinander kommunizieren und leiden können, behauptet ein Buch-Bestseller. Kann das sein? Ist "Bruder Baum" noch sensibler, als wir denken? Die freizeit auf der Suche nach dem "Zauberwesen Wald" – an einem magischen Ort, der geheim bleiben muss.

Der Harvester arbeitet mitten im Nutzwald, umfasst eine hochgewachsene Fichte mit seinen Greifarmen, durchschneidet den Stamm wie Butter. "Das müssen Sie sehen", sagt Großwaldbesitzer Guntard Gutmann. Die Baumkrone schwankt hin und her, als hätte sie ein leichter Windstoß erfasst. Normalerweise fällt so ein Exemplar innerhalb eines langen Atemzugs. Dieses hier ist widerspenstig. Zunächst. Dann doch ein lautes Knacken, die Fichte legt sich krachend zur Seite und schlägt auf. Für einen Moment ist es, als könnte man das Nachfedern am Boden spüren. Die Erntemaschine arbeitet unbeirrt in einem Rutsch weiter, befreit den Stamm von Ästen und schneidet ihn sofort in transportfähige Stücke. "Das gehört zum Waldleben dazu", sagt der Besitzer dieses Holzes. Alltag in der Gutmann'schen Forstverwaltung Jaidhof im Waldviertel. Bäume sind Rohstoff für Papier, Möbel und mehr.

Nur Minuten zuvor standen wir in einem Waldstück, das auch für Zauberwesen aus Märchen und Mythen ein idealer Zufluchtsort wäre. Würden Trolle oder Elfen hier vorbeispazieren, es gäbe keinen Grund, sich darüber zu wundern. Auch dieser Wald gehört Guntard Gutmann, Herr über insgesamt 2.000 Hektar Forstgebiet.

WALD DER WUNDER
Annemarie Josef
Der Zauberwald erstreckt sich auf acht Hektar, einer Fläche von 11 Fußballfeldern. Ein fast unberührtes Stück Buchenwald, eines von insgesamt 200 Naturwaldreservaten (kurz NWR) in Österreich. Diese umfassen insgesamt etwa 8.000 Hektar. Das klingt nach wenig im Vergleich zum gesamten Waldbestand Österreichs (siehe Grafik "Österreichs Waldzahlen"), ist aber ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung und Weiterentwicklung naturnaher Wälder. Ein Stück Baumlandschaft, in die der Mensch nicht eingreift, damit sie sich frei entfalten kann, mit allem, was dazu gehört: Eine Waldgemeinschaft mit krummen Bäumen, starken Bäumen, schwachen Bäumen, von Pilzen befallenen Bäumen, sterbenden Bäumen – Totholz, Pilzbefall, Zersetzung sind erwünscht. Wesentlich ist, dass dieser Wald nicht wirtschaftlich genutzt wird, sondern waldökologische Langzeitforschung möglich macht. Die Teilnahme an dem Programm unterliegt strengen Kriterien, ist freiwillig, vom Staat Österreich gibt es dafür ein Entgelt, finanziert aus Bundesmitteln.
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© Peter Wohlleben/Randomhouse - "PETER WOHLLEBEN- DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME " - Buchbesprechung - Bilder honorarfrei

Der Boden des urwaldnahen Buchenwalds von Jaidhof ist so weich, dass man mit jedem Schritt nicht nur tiefer in den Wald gelangt, sondern auch ins Erdreich zu sinken scheint. Dort hinein wühlt sich auch das moosbewachsene Wurzelwerk einer besonders imposanten alten Buche wie die Hand eines Riesen. Es ist ein geheimer Ort, und Georg Frank, Leiter der Initiative ÖsterreichischeNaturwaldreservate, wiederholt, worum er bereits am Telefon bat: „Sie dürfen bitte nicht schreiben, wie man hierher findet.“ Die Naturwaldreservate sollen nämlich nicht zum Massenziel werden. Gelangt aber jemand zufällig in diesen Zauberwald, sei das natürlich kein Problem. Er weiß ja nicht, auf welch besonderem Boden er steht – er könnte es aber erahnen, wenn er die Augen aufmacht. Man kann es jedem nur wünschen, sich hierher zu verirren. Ein magisches Schauspiel: Geäst, das sich schlangenartig über den Boden schiebt, Baumreste, die sich zubizarren Skulpturen verformt haben. Das ist nahezu unberührte Landschaft – ein Waldmuseum, das lebt. Über den Waldboden zieht sich ein Band von Märzenbechern. Die Frühlings-Knotenblume nutzt das Licht der Sonne, das durch das noch nicht belaubte Kronendach der Buchen strömt. Wenn die Buchen ab Ende April austreiben und es dunkel wird im Wald, verschwinden die Pflänzchen wieder unter die Erde, bis zum nächsten März.
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Annemarie Josef
Dass diefreizeit den Wald-Experten Georg Frank (oben im Bild) hierher begleiten durfte, war ein spontaner Entschluss. „Kommen Sie doch morgen einfach mit, ich zeig es Ihnen“, antwortete er auf die Frage, wie es um Österreichs Wald bestellt sei. Und so begaben wir uns auf Spurensuche. Denn bei unseren deutschen Nachbarn ist ein regelrechter Hype um Bruder Baum entstanden. Ausgelöst hat diesen der ehemalige Förster Peter Wohlleben mit seinem Buch-Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“. Der Autor befasst sich darin mit Bäumen als sozialen Wesen, seine Erkenntnisse gipfeln in der Feststellung, dass Bäume fühlen können. Und Wohlleben hat damit offenbar den Nerv der Zeit getroffen. Schon lange nicht mehr war das Interesse an und die Begeisterung für Bäume in unseren Breiten so groß wie derzeit.
Bäume können fühlen und sind soziale Wesen, die miteinander kommunizieren? Da mag so mancher den Kopf schütteln. „Sind Bäume die neuen Wale?“, fragte etwa die Wochenzeitung Die Zeit. „Bedrohte, intelligente, edle Wesen, vom Menschen unterschätzt und abgeschlachtet? Werden wir bald mit Buchen kuscheln wie mit Delfinen?“, so das Feuilleton-Format.
Und wenn schon. Jaidhof-Waldbesitzer Guntard Gutmann (unten im Bild) beantwortet die Frage, ob er einen Baum umarmen würde mit einer simplen Gegenfrage „Warum nicht?“ Später wird er erzählen, was seine Art des Baumumarmes ist: Wenn er auf Pirsch geht. Da verbringe er viel Zeit im Wald, komme der Natur besonders nahe, erlebe Überraschendes, Neues, Faszinierendes.
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Annemarie Josef
In Gutmanns Büro unter jahrhundertealten Dachbalken entsteht eine Diskussion über die Sehnsucht der Menschen nach mehr Ursprünglichkeit und dem Streben, den Wald für alles zu (be-) nutzen. Der Wald als Rohstofflieferant und Lebensraum. Es fallen Worte wie Achtsamkeit und Nachhaltigkeit. „Schubladendenken hilft nicht weiter, es gibt nicht nur eine Sicht der Dinge“, sagt Gutmann. Was ist mit dem Spaziergänger, der das Auto so auf der Forststraße abstellt, dass keine Forstmaschine mehr durchkommt? Oder dem Mountainbiker, der durch den Wald rast, ohne Rücksicht auf Wild und Wege? Etwas mehr Feinsinn für die Bäume, den Wald, aber auch die Arbeit, die dahintersteckt, wären gut. Da kommt Wohllebens Buch-Bestseller gerade recht. Geht es doch darum, das Wesen der Bäume zu erfassen. Da schadet es nicht, wenn Menschen sich bewusst machen, woher das Holz stammt, mit dem sie ihren Kamin befeuern. Vielleicht ein Anfang.
Kann ein Baum leiden? Diese Frage hätte man Förstern, Jägern oder Gutsverwaltern noch vor einigen Jahren nicht so leichthin stellen können. Naturwald-Mann Frank, seit zwanzig Jahren Leiter des NWR-Programmes am Bundesforschungszentrum für Wald, denkt kurz nach: „Ja, ich glaube ich kann sogar sehen, wenn sie leiden. Natürlich nicht in dem Sinne, wie wir Menschen es tun, aber ja, doch.“ Woran er es erkennt? Er lacht: „Dann strahlen sie nicht.“ Es sei die jahrzehntelange Erfahrung, das Gespür, das man entwickelt, wenn man immer wieder beobachtend durch die Wälder streift. So wie der Gärtner, der seine Pflanzen betrachtet und kennt. Auch dass Bäume miteinander kommunizieren hält Frank nicht für Humbug. Es sei ja auch bei Tieren so, dass sie sich miteinander verständigen können, ohne dass wir alles davon mitbekommen. Das kennt der Öko-Jäger, wie er sich selbst nennt, von der Pirsch. Nein, Frank würde nicht so weit gehen zu sagen, dass Bäume miteinander sprechen. Aber ein Austausch finde sicher statt: „Wir haben einfach nicht die Worte dafür, um es für alle verständlich auszudrücken, ohne es zu vermenschlichen. Da muss man ein bisschen aufpassen.“
Frank ist auch bekannt, dass das Wurzelwerk von Bäumen und Pflanzen miteinander vernetzt ist. Das ist kein Geheimnis. Biologen haben erforscht: Bäume im Wald können sich über 30 Meter weit miteinander verbinden. Unter der Erde herrscht durch die Symbiose von Wurzeln und Pilzen ein riesiges Netzwerk: „Man weiß auch, dass der Wald unter der Erde mindestens so groß ist wie der über der Erde.“
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Mag. Annemarie Josef
Hier im Buchenwald vermutlich noch größer. Wie-auf-Wolken-Gehen bekommt eine völlig neue Bedeutung. „Schauen Sie!“ Georg Frank deutet auf einen riesigen Laub-Erd-Hügel neben der Buche, an die sich Waldbesitzer Gutmann eben noch angelehnt hat. Sieht aus wie ein imposanter Ameisenhaufen. Aber nein, dabei handelt es sich um die letzten Reste eines abgestorbenen Baumes. Auf dem Hügel haben sich kleine Buchentriebe entwickelt, sie stehen im Schatten einer großen, alten Buche. Förster und Buchautor Wohlleben würde hier von Mutterbaum und Kinderaufzucht sprechen ... Georg Frank will aber noch etwas anderes herzeigen: Pilzschwämme. Wie Muscheln zieren sie einen liegenden Baum. Man kann erkennen, welche Pilze zuerst da waren, es gibt nur zwei Wuchsrichtungen zu sehen, wie Stufen hängen sie am Stamm, wachsen immer waagrecht, egal, ob der Baum steht oder liegt. Faszinierend: In einem feucht-warmen Buchenwald wie diesem wird selbst das härteste tote Buchenholz von den holzzersetzenden Pilzen innerhalb weniger Jahre völlig abgebaut.

Dass abgebrochene Äste und umgefallene Baumstämme heute in vielen Wäldern liegenbleiben, hat übrigens nichts damit zu tun, dass die Wälder vernachlässigt werden. Im Gegenteil: Längst hat man erkannt, dass das sogenannte Totholz, das am Boden vermodert, Lebensgrundlage für zahlreiche, teils stark bedrohte Arten wie Pilze, Hirschkäfer, Bockkäfer und Spechte ist. Und gleichzeitig Nährstoff für die nächste Generation von Bäumen.
Waldbesitzer Guntard Gutmann will noch zu einem anderen geheimen Ort. Über Forstraßen geht es durch den Wald. Ein Lkw rollt mit einer Ladung Fichtenstämme an uns vorbei. Gutmann schaut prüfend durchs Revier und erklärt: „Hier gab es einen Borkenkäferbefall, die Bäume mussten weg. Dort hat der Wind sein Übriges getan und da hinten haben Wildschweine den Boden aufgewühlt.“
Plötzlich eine kleine Lichtung, eingerahmt von imposanten Baumriesen. Wir sind da. Der Herr des Waldes geht direkt hinein in die Waldgesellschaft, breitet die Arme aus, hebt den Kopf Richtung Baumwipfel, wo sich in einigen Wochen ein Dach aus zartem Grün bilden wird. „Über vierzig Meter hoch sind sie“, sagt Gutmann. Wir staunen über so viel Schönheit. Wenn ein Wald elegant sein kann, dann dieser hier. Aufrecht, selbstbewusst und stolz ragen die Bäume in den Himmel. Das Besondere: Nirgendwo in Österreich gibt es so wuchsfreudige und hohe Buchen. Deshalb sollen diese Bäume hoffentlich auf ewig weiterwachsen, gehören auch zum Naturwald-Programm. Als Beispielbestand, um zu erforschen, wie diese Buchen wachsen.
Der Waldbesitzer strahlt angesichts so viel natürlicher Pracht. Dann steuert er einen mächtigen Stamm an, versucht ihn zu umarmen. „Viel zu dick!“, lacht er. Den Baum hat’s sicher trotzdem gefreut ...

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Bäume SPRECHEN MITEINANDER: Der Waldboden ist von feinsten Pilzfäden durchzogen – in einem Teelöffel Erdreich finden sich mehrere Kilometer (!) dieser Fäden. Laut Wohlleben agieren diese wie die Glasfaserleitungen des Internets. Wissenschaftler sprechen auch vom Wood Wide Web. Die Pilzfäden geben elektrische Signale weiter und verteilen Zuckerlösungen. Aber auch mithilfe chemischer Prozesse gibt es Austausch – andere Bäume werden über Duftbotschaften vor Gefahren gewarnt.


Bäume HELFEN EINANDER: In ungestörten Buchenwäldern konnte gezeigt werden, dass Stärken und Schwächen einzelner Exemplare ausgeglichen werden. Ob dick, dünn, klein, groß, guter oder schlechter Standort – wer zu viel hat, gibt ab, wer zu wenig hat, dem wird geholfen. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wird ein ehemals starker Baum krank, wird er von seinen Mit-Bäumen unterstützt.


Bäume SIND FAMILIÄR: Junge Buchen etwa werden regelrecht gestillt. Im Schatten der Eltern stehend, bekommen sie nur drei Prozent Licht, so dass keine Fotosynthese möglich ist. Deshalb bekommen die Kleinen von den Mutterbäumen nährende Zuckerlösung über den Waldboden.


Bäume KÖNNEN LEIDEN: Wird die Außenhülle verwundet, braucht es ein Empfinden, um zu reagieren, das ist für jedes Lebewesen wichtig. Man kann messen, dass bei einer Verletzung der Rinde elektrische Signale durch den Baum gehen. Wohlleben sieht Bäume als Wesen mit Gefühlswelt. Der Unterschied zu Tieren: Bäume produzieren ihre Nahrung selbst.


Bäume BRAUCHEN SCHUTZ: Wohlleben geht es nicht um esoterische Überhöhung, sondern um die Wichtigkeit der Bäume für das Ökosystem. Es brauche Schutzgebiete, in denen Bäume wie im Urwald leben dürfen. Der Autor ist überzeugt, dass wir gesunde Wälder als Rohstofflieferanten brauchen – aber eben auch Urwälder. Es sei noch nicht genug erforscht, was der Wald für das gesamte Ökosystem bedeutet. Aber haben wir einmal keinen mehr, ist es für die Forschung zu spät. Und für die Menschen auch.

WALD DER WUNDER
Das geheime Leben der Baeume von Peter Wohlleben
Das geheime Leben der Bäume,
Peter Wohlleben (Ludwig Buchverlag)

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