Zauber der Manege
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„Wenn einer beim Hinausgehen sagt, der war net schlecht, dafür hab’ ich gelebt“, sagt Rob Roy. Der ältere Herr mit dem markanten Gesicht, der trotz Gehstocks keine zwei Minuten stillsitzen kann, trägt seinen Künstlernamen seit seiner Zeit als Einhandakrobat in den 1960ern. Wenn er in der Manege mit einer Hand auf einem Fahrrad balancierte und mit der anderen jonglierte, blieb wohl so manchem der Mund vor Staunen offen. Ebenso wie damals, als Erich Brenn mit 13 Porzellantellern gleichzeitig jonglierte und in Las Vegas oder im Pariser Lido bejubelt wurde. Oder Putzi Stroschneider, die als biegsames Kautschukgirl und später, gemeinsam mit ihrem Mann, als „Duo Holt“ das Publikum mit einer Messerwurfnummer begeisterte. Die drei Künstler sind längst in Pension. Doch sie sind sehr lebendige Zeugen der großen Zeit des Zirkus und des Varietés, als es auch in Wien noch Dutzende Lokale gab, in denen Artistik, Akrobatik und Burlesque auf hohem Niveau gezeigt wurden. Sie hießen Apollo-Theater (in Mariahilf), Danzers Orpheum (in der Wasagasse), Kabarett Femina (Johannesgasse) oder Varieté Leicht (im Prater). Schon Anfang des 19. Jahrhunderts entstand im Prater der prunkvolle „Circus Gymnasticus“ des Christoph de Bach. Bei ihm arbeitete ein gewisser Ernst Renz als Eleve, der später eine ganz besondere Art der Reitkunst entwickelte und in der Leopoldstädter Zirkusgasse seine eigene Arena errichtete, die im Zweiten Weltkrieg den Bomben zum Opfer fiel. Der Name Renz findet sich noch im ebenfalls längst untergegangenen „Cabaret Renz“ ein paar Häuser weiter, das jetzt von Spitzenkoch Juan Amador bis zum Herbst in ein feines Restaurant umgebaut wird.
Der Zirkus der Vergangenheit war eine riesige Unterhaltungsmaschine, die mit enormem Aufwand betrieben wurde. Zirkushistorikerin Birgit Peter hat nachgeforscht: „Beim Zirkus Busch gab es Wasserspiele, von allen Seiten ergossen sich riesige Fontänen in die Manege. Bis zu 300 Pferde traten auf, große Zirkusse hatten 50 Löwen und Tiger, 20 Elefanten, 100 Pferde und 300 Mitarbeiter.“
Kunstreiterin Therese Renz, um 1895: Sie und ihre Kolleginnen waren die Superstars unter den Artisten
Blieb das Publikum fern, war allerdings rasch Sand im Getriebe der Zirkusmaschine. Das bekam der Zirkus Kludsky, einer der großen in der österreichisch-ungarischen Monarchie, zu spüren. Es war das Bürgerkriegsjahr 1934, als der Zirkus im Prater gastierte. Während der Februarkämpfe konnte einige Zeit nicht gespielt werden. Für das Riesenunternehmen bedeutete das den Untergang. Nicht ganz so groß, aber nicht minder wichtig war das Varieté Ronacher, ein prunkvolles Theater mit angeschlossenem Hotel und Kaiserloge. In manchen Vorstellungen traten sogar Elefanten und Raubtiere auf, was mitunter zu Schwierigkeiten mit der Feuer- und Sicherheitspolizei führte. „Es geht nicht, dass Elefanten schon wieder durch die Singerstraße geführt werden“, liest man in Akten aus den 1930er-Jahren. Auch die Auftritte von Künstlern gingen nicht immer skandalfrei vonstatten. So musste sich der Direktor des Ronacher sieben Jahre bemühen, bis die damals schon weltberühmte Sängerin und Tänzerin Josephine Baker 1932 endlich ihr Debüt im Ronacher geben durfte. Auch da trug sie ihr legendäres Bananenröckchen. Der Ruf, der ihr vorauseilte, war eher hinderlich. Die Schönheit aus St. Louis wurde als „schwarzer Dämon“ bezeichnet, einflussreiche Kreise schürten die Angst vor der „lasterhaften Person“. „Ich werde als lebender Beweis für den Sittenverfall dargestellt“, klagte die Künstlerin daraufhin. Die Künstler aus Zirkus und Varieté kämpften von Anbeginn gegen ihren schlechten Ruf – und hatten dennoch viele Anhänger. Sogar im Herrscherhaus.
Kaiserin Elisabeth ließ in der Spanischen Hofreitschule eine Manege errichten, in der Kunstreiterin Elise Petzold, eine der berühmtesten ihrer Zeit, trainierte. Der Hof missbilligte diese Aktivitäten. Auch den Umstand, dass Sisi auf Schloss Gödöllö Artisten, vom Kraftmenschen bis zum Feuerschlucker, empfing. Und in ihrem Fotoalbum fanden sich vorne die Bilder von „ehrenwerten“ Schauspielern. Drehte man das Album um, klebten hinten die Bilder von Artisten. Die große Krise kam in der Zwischenkriegszeit. So mancher Zirkus war nicht mehr finanzierbar. Das Publikum hatte kein Geld, also konnte man die Eintrittspreise nicht so kräftig erhöhen, dass der Betrieb weiterlaufen kann. In der präfaschistischen Ära versuchte die Obrigkeit eine Unterscheidung in anständig und unanständig. Auch weil sich nach dem Ersten Weltkrieg viele kleine Animierlokale als Varieté bezeichneten, in denen sich die Gäste in Séparées zurückziehen konnten. Die gab es übrigens bis in die 1980er-Jahre auch im Ronacher, ehe es zum honorigen Musical-Theater umgebaut wurde. Die gesellschaftliche Anerkennung blieb den Artisten dennoch meist verwehrt. Nur die Kunstreiterinnen waren die Superstars der Zirkus- und Varieté-Szene, manche von ihnen heirateten sogar in den Hochadel ein. Einhand-Akrobat Rob Roy bekam nicht nur einmal zu hören: „So gut möchte ich es auch einmal haben. Sieben Minuten lang arbeiten und dann Feierabend.“ Er weiß aber ebenso wie das ehemalige „Kautschukgirl“ Putzi Stroschneider und Tellerjongleur Erich Brenn, wie viel Arbeit in einer guten Nummer steckt. Umso schwieriger ist es, Erfolg zu haben, sagt der Jongleur: „Der Artist hat nur ein paar Minuten Zeit, dann muss er sein Publikum begeistert haben.“
Von Wien nach Las Vegas: Brenn, Jahrgang 1928, jonglierte im Lido in Paris, in der Radio City Music Hall in New York und im Stardust in Las Vegas. Er stand mit Jacques Tati auf der Bühne, und Maler Oskar Kokoschka zeichnete ihn. Schließlich lernte er Eislaufen, um mit Holiday On Ice auf Tournee zu gehen. Mit 67 trat er zum letzten Mal auf. Und noch heute lässt er mit Schülern in seiner Wiener Wohnung die Teller tanzen.
„Wenn ein Direktor am dritten Tag deines Engagements sagt, nächstes Jahr kannst du wieder bei ihm auftreten, das ist Anerkennung“, sagt Putzi Strohschneider, geboren 1929. Sie stammt aus einer Artistenfamilie und stand mit zehn Jahren erstmals in der Manege. Sie tanzte und verbog ihren Körper als „Kautschukgirl“ und machte Wurfakrobatik. Später trat sie gemeinsam mit ihrem Mann auf. Als „Duo Holt“ zeigten sie eine Messerwurfnummer mit Lasso. Ihren letzten großen Auftritt, ehe ihr Mann erkrankte, hatte sie in André Hellers erstem Roncalli-Programm 1976. Heller machte aus der Nummer mit Cowboys Chinesen. „Roncalli, das war der krönende Abschluss“, sagt die Artistin. Die letzten 15 Jahre vor ihrer Pension arbeitete Putzi Stroschneider in einem Schuhgeschäft.
Er kennt alle Varietés, Nachtclubs und Casinos Europas. Und die meisten Zirkusse. Rob Roy, Jahrgang 1947, trat als Vierjähriger gemeinsam mit seinem Vater als Handakrobat auf. Engagements bei Circus Krone und ATA, das Moulin Rouge in Wien war sein Wohnzimmer. 15 Jahre leitete Rob Roy seinen eigenen Zirkus. Und bezwang in einem einwöchigen Handstandlauf den Großglockner – als Werbung für Semperit.
Josephine Baker, die Tochter einer Waschfrau und eines Schlagzeugers aus Missouri, geboren 1906, machte Weltkarriere. Sie begann als Chor- und Revuegirl, ehe sie in Europa das Publikum mit dem Charleston begeisterte. Wegen ihrer freizügigen Kostüme wurde sie in Wien, Prag, München und Budapest mit Auftrittsverbot belegt. Ihr Bananenröckchen ist bis heute weltberühmt. Nachdem sie mit der Ziegfeld-Show in New York durchgefallen war, wurde Josephine Baker französische Staatsbürgerin, trat während des Kriegs vor französischen Soldaten auf und arbeitet für die Résistance und den Geheimdienst. Später engagierte sie sich gegen Rassismus und unterstützte die US-Bürgerrechtsbewegung. Der österreichische Architekt Adolf Loos entwarf ein schwarz-weiß-quergestreiftes Haus für sie, das allerdings nie gebaut wurde. Baker starb vor 40 Jahren, im April 1975, und wurde in Monaco begraben.
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