Spuren im Schnee

Der Gipfel ist das Ziel: Valluga, Trittkopf, Hasenfluh. Wer stundenlang nach oben gestapft war, wurde mit grandiosen Ausblicken belohnt.
Die Sehnsucht nach Natur und Freiheit – ermöglicht durch das „Wunder des Schneeschuhs“. Die Eroberung der Berge war am Anfang nur ein Erlebnis für Mutige, aber sie hat tiefe Spuren hinterlassen – ein Kulturwandel am Beispiel des Arlbergs.

Es war ein Abenteuer, als der Geologieprofessor Wilfried von Seidlitz mit einer Handvoll Bergkameraden die Ski-Erstbesteigung des 2.896 Meter hohen Kaltenbergs in der Verwallgruppe wagte. Aufwärts von St. Christoph am Arlberg durchs Maroital. Der Aufstieg war mühsam und anstrengend. Doch auch in den Nächten fanden die Sportler nur wenig Erholung. Als die erschöpften Männer eine Hütte erreichen, finden sie dort nichts vor, außer einer kahlen Stube mit Pritschen und einem Herd, der aus allen Ritzen rauchte, wenn man ihn anheizte. Es war also bitterkalt. Doch die Männerrunde wusste Rat. „Wir legten uns wie Löffelchen auf die Pritsche, wobei der Flügelmann stets das Kommando gab, wenn die Liegeschulter gewechselt werden musste. Das war eine Nacht des Schauerns und des Zähneklapperns.“ 101 Jahre ist das nun her, und Luxus gab es keinen, als die Menschen die Berge auf Skiern eroberten.

Max Madlener, Arzt und Skipionier aus Kempten im Allgäu, 1901

Mit dem, was sich heute in Wintersportparadiesen wie Kitzbühel oder eben in den Orten mit luxuriösen Hotels am Arlberg abspielt, hatte das noch rein gar nichts zu tun. Auslöser war Fridtjof Nansen. Der norwegische Polarforscher durchquerte in 40 Tagen auf „SchneeschuhenGrönland. Die Schilderungen von seiner Reise inspirierte Menschen in den Alpen, und sie begannen, die winterliche Natur zu erschließen.

Als sich der Pfarrer von Warth 1894 aus Skandinavien ein Paar Schneeschuhe schicken ließ, war das dem Vorarlberger Volksblatt eine Meldung wert: „Kein Mensch weiß, wie man sich mit diesen über zwei Meter langen Dingern fortbewegen soll.“ Bald wussten das allerdings immer mehr Menschen, neben den Einheimischen war es eine junge, sportliche Elite aus den Städten, die in der Natur und den Bergen die Gegenwelt zu ihrem Alltag suchte.
Schon die Anreise in die abgelegenen Orte am Arlberg wie Lech, Warth oder Zürs war ein Erlebnis: Die Gäste wurden mit Pferdeschlitten abgeholt und über tiefverschneite Straßen in ihre Quartiere gebracht. Blockierte wie so oft eine Lawine den Weg, wurde sogar ein Tunnel in die Schneemassen gegraben. Die Flexenstraße, die unter großen Mühen in den Fels gesprengt wurde, und die Stuben, Zürs und Lech verband, brachte um die Wende zum 20. Jahrhundert ein wenig Erleichterung.

Die Frauen stapften in langen Röcken, mitunter sogar mit Hut auf dem Kopf, den Berg hinauf, die Männer trugen Pluderhosen und dicke Lodenjacken. Später, nach den dunklen Zeiten des ersten Weltkriegs, suchten die Skifahrer in der Höhe vor allem auch die Sonne. Beim Sonnenbad auf dem Gipfel fielen die Kleider, die Haut wurde dunkelbraun gegerbt. „Wer sich noch nie nackt im Schnee des Hochgebirges tummelte, der kennt die schönsten Winterfreuden nicht“, schwärmte Arlberggast Hans Suren, Offizier und Sportpädagoge aus Berlin. Es wurde aber auch schon Kritik laut. So ortete der Wiener Schriftsteller Heinrich Mayer unter den Skigästen, „viele, welche die Natur der winterlichen Hochalpen und die notwendigen Erfordernisse für ihren Besuch völlig verkennen“. Vor dem Hotel steht „das Grammophon im Schnee, während einzelne des Skilaufs Müde sich in Nagelschuh und Skigewand zum neuesten Tanzschlager drehen“. Tatsächlich ist Zürs schon ein angesagter Wintersportort geworden. 1930 verfügt es über 600 Gästebetten. Die Hotels tragen Namen wie Edelweiß“, „Alpenrose“ oder „Krone“. 1927 steckte der britische Alpinist Arnold Lunn, Gründer des Kandahar-Skiclubs in Mürren, die ersten Stangen in den Schnee. Die zwanzig Teilnehmer des Rennens waren so begeistert, dass man beschloss, von da an jährlich einen Slalom und einen Abfahrtslauf am Arlberg zu veranstalten. Das Kandahar-Rennen war geboren.

Spätestens zu dieser Zeit entwickeln sich zwei Philosophien in den Bergen: Die der Skibergsteiger und die der Sportfahrer. Den einen geht es um die Eroberung der Gipfel, das Ziel des Abfahrers ist das Tal, das er möglichst schnell erreichen will. Diesem Typ kommen die ersten Skilifte gerade recht. So errichtet ein gewisser Emil Doppelmayr 1937 nach dem Vorbild von Val d’Isère auf dem Übungshang von Zürs einen Schlepplift. Am Start, gleich neben dem Hotel Alpenrose, wurden Bügel verteilt, die die Skifahrer sich zwischen die Beine klemmen mussten. Der „Bahnhofsvorstand“ verband die Bügel mittels eines Karabiners mit dem Zugseil. Und die im selben Jahr eröffnete Galzigbahn beförderte in ihren „schmucken, roten Kabinen“ 200 Personen pro Stunde auf den Hausberg von St. Anton. Acht Minuten für 700 Höhenmeter – eine neue Dimension des Skilaufs.
Der Aufschwung am Berg findet mit den Nazis als neue Herren ein jähes Ende. Sie missbrauchen den Wintersport für ihre Zwecke. So müssen die Lehrer der Arlberg-Skischule allmorgendlich 10 Minuten vor 10 am Sammelplatz erscheinen, um dort beim ersten Sirenenzeichen vom Betriebsleiter mit dem deutschen Gruß empfangen zu werden. Wer nicht auf die gleiche Art dankte, wurde als politischer Saboteur angezeigt. Skischul-Betreiber Hannes Schneider, der mit seinen technischen Entwicklungen die Skifahrtechnik entscheidend vorangebracht hatte, geriet alsbald ins Visier der Nazis: Er weigerte sich, nur Arier zu unterrichten. Da war es auch wenig hilfreich, dass er sich zuvor schon, bei den Dreharbeiten zum Bergfilm „Der weiße Rausch“ Leni Riefenstahl zur Feindin gemacht hatte. Nur die Intervention von Freunden ermöglichte ihm die Emigration in die USA.

Als die Herrschaft der Nazis endlich vorbei war, ging die Erfolgsgeschichte des Arlbergs weiter. Lift um Lift wurde gebaut, längst werden im Winter allein in St. Anton mehr als eine Million Übernachtungen gezählt. Die ersten Skischaukeln entstanden, auch wenn sie diesen Namen noch nicht trugen. Dafür sorgte nicht zuletzt der Ruhm des „Arlberg-Express“. So lautete der Spitzname der Rennläufer der Region, weil sie kaum zu bremsen waren. Ihre Namen lesen sich wie das Who’s Who des Rennsports: Othmar Schneider, Trude Jochum-Beiser, Martin Strolz, Marianne Jahn, Franz und Gertrud Gabl, Edith, Heidi und Egon Zimmermann, Gerhard Nenning und natürlich Karl Schranz. Sie alle stammen vom Arlberg. Das lockte auch eine Reihe prominenter Gäste an: die monegassische Fürstenfamilie, Beatrix von Holland, mit Gemahl Claus, Mohammad Reza Pahlevi, der Schah von Persien, und Farah Diba.
Dass den Arlbergern ihre Tradition wichtig ist, beweisen sie alljährlich beim „Weissen Ring“. Dieses längste Skirennen der Welt verlangt den Läufern alles ab. Es führt über die Orte Lech, Zürs, Zug und Oberlech. Auf der 22 Kilometer langen Strecke sind 5.500 Höhenmeter zu überwinden. Der Rekord liegt knapp unter 45 Minuten. Die Alternative zum Hahnenkamm.

Ein Stock, zwei Latten
Der niederösterreichische Lehrer Mathias Zdarsky ist Autor des weltweit ersten Skilehrbuchs. Gefahren wurde mit nur einem Skistock. Zdarsky entwickelte die Stahlsohlenskibindung, die der Ferse Halt gab und den Vorlagestemmschwung, mit dem im Gegensatz zur nordischen Technik auch steile Hänge befahrbar wurden.


Offizier im Schnee
Georg Bilgeri, geboren 1873 in Bregenz, war Alpin- und Skilehrer in der österreichisch-ungarischen Armee. Dass die Armee im Ersten Weltkrieg die Skier als Fortbewegungsmittel im Schnee entdeckte, trug maßgeblich zur Popularität des Skilaufs bei. Bilgeri setzte auf Zweistocktechnik und Stemmschwung. Die „alpinnorwegische Technik“ nannte er das. Bis dahin hatten sich die Läufer mit dem Telemark, den wir heute nur noch von den Skispringern kennen abgemüht.


Skischulgründer
Hannes Schneider entwickelt Bilgeris Technik weiter. Er gründet die Arlberg-Skischule. Stemmbogen, tiefe Hocke und kleine Schwünge waren sein Rezept, mit dem er auch Anfängern die Angst vor dem Skilauf nehmen konnte. Nach seiner Vertreibung durch die Nazis lehrte er die Amerikaner das Skilaufen nach seinen Vorstellungen.

Mit Fell und Kanten
Mindestens so stark wie die Technik veränderte sich das Material. Stahlkanten, die im eisigen, steilen Gelände Halt geben, gibt es erst seit 1917. Die Ski waren anfangs 2,40 Meter lang und länger. Und die Seehundfelle, die den Aufstieg ermöglichten, wurden mit Nägeln am Ski befestigt. Wer kein Seehundfell hatte, montierte kleine Tannenzweige mittels Hosenträger am Ski. Die erste Sicherheitsbindung, die sich im Fall eines Sturzes öffnet, wird im Jahr 1925 patentiert.

Spuren im Schnee
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Sabine Dettling, Bernhard Tschofen: Spuren. Skikultur am Arlberg
Hrsg. Gustav Tschoder, Bernhard Tschofen, Bertolini Verlag,
360 Seiten, 700 Abb., 34 €

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