Explodierende Wände

Es gibt Menschen, die sehen Töne als Farben und sexuelle Erregung als Farben-Orgie in Orangerot. Ihr Hirn ist anders verknüpft – und das macht sie zu so genannten „Synästethikern“. Was zum Spiel mit der Fantasie verführt: Denn der Gedanke, seinen Orgasmus als Farb-TV wahrzunehmen, ist recht verlockend.

Wunder Mensch: Es ist immer wieder erstaunlich, wozu der Körper fähig ist. Da sage ich nur: Synästhesie. Schon davon gehört? Menschen, die an Synästhesie „leiden“, haben ein eigenartig verdrahtetes Gehirn. Was dazu führt, dass sie Töne schmecken oder bei Zahlen Farben sehen bzw. sie sogar fühlen. Und bei Buchstaben oder Worten kann es gar vorkommen, dass hinter einem M mehr als nur das fade M gesehen wird, sondern eine Symphonie optischer Eindrücke. Das M kommt dann als bandförmige Welle in bunten Regenbogenfarben daher. Irgendwie schön. Angeblich gibt es davon viele verschiedene Formen und angeblich hat das jeder 20. Mensch. In einem Frauenmagazin las ich ein Interview mit einer Synästhetikerin, sie sagte: „Das Ticken des Weckers nahm ich als indigoblaue Kügelchen wahr.“ Wow, manche müssen verbotene Substanzen einwerfen, um das zu erleben. Um ehrlich zu sein: Ich bin zwar noch nie jemandem begegnet, der das hat, aber irgendwie hätte ich diese Begabung – als die sehe ich es nämlich – auch gerne. Und zwar vor allem deshalb: Menschen mit Synästhesie sehen Farben, wenn sie etwas intensiv empfinden. Im Magazin „Neurology“ wurde dazu über einen sensationellen Fall berichtet: von einem Mann, bei dem ein leichter Hirnschlag unglaubliche Sinnesverknüpfungen auslöste. Seitdem passiert Folgendes: Immer wenn er Musik mit hohen Blechblasinstrumenten hört, fühlt er sich, „als würde er auf der Musik reiten“. Dazu kommen orgiastische Gefühle, begleitet von blauem Flackern am Rand seines Gesichtsfeldes. Faszinierend. Womit ich beim Sex gelandet wäre. Denn natürlich stellt sich die Frage, was beim synästhetischen Höhepunkt passiert. Welche Farben hat ein Orgasmus? Welche Form? Wie kommt er daher? Als Welle, Wolke oder schlichtes Pünktchen? Darauf haben deutsche Forscher nun im Rahmen einer psychologischen Studie eine Antwort gefunden. In der ersten Phase der Begierde sahen die Testpersonen die Farbe Orange, in der nächsten Geilheitsstufe steigerte sich das Orange in seiner Intensität und es mischten sich weitere Farben dazu. Leuchtend, stark. Knapp vor dem Höhepunkt verdichtete sich die Farbe zur „Materie“: Man sah etwa eine Wand. Und jetzt kommt’s: Beim Orgasmus explodierte sie in bläulich-violette und ringförmige Strukturen. Danach folgte irgendwas zwischen Pink und Gelb. Entspannung. Ausatmen, einatmen, vielleicht ein Zigaretterl. Als ich das las, habe ich mir sofort gedacht: Im nächsten Leben hätte ich bitte gerne auch ein synästhetisches Hirn. Bis dahin sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Das Streicheln von Männerhänden könnte als froschgrünes Mäandern mit fetten, schillernd roten Farbklecksen daherkommen. Ein intensiver Zungenkuss würde wie viele dunkelrot-violette U-Boote aussehen, die wie Amazon-Drohnen durch den Raum schweben. Das Knabbern am Ohr (oder am Hals) wäre ein knallbuntes Gummiboot, das von links nach rechts wabert. Und die Fußmassage könnte wie ein Regenbogen an einem heißen Sommertag wirken. Hach! Wie sagte Paul Cézanne? „Die Farbe ist der Ort, wo unser Gehirn und das Weltall sich begegnen.“

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