Auflösen

Im neuen Film „Schoßgebete“ – nach dem gleichnamigen Roman von Charlotte Roche – versucht eine Frau durch Sex alles Belastende zu vergessen. Denn – ja – in jeder sexuellen Begegnung kann es auch immer um das Bedürfnis gehen, sich zu verlieren. Im besten Gefühl, das der menschliche Körper zu bieten hat: dem Orgasmus.

Sex und Trauma: Dieses Thema durchwebt „Schoßgebete“, den Film zum Buch von Charlotte Roche, angelaufen am 18. September. In dem gesteht die Protagonistin Elizabeth einer Therapeutin ihr Verhältnis zum Geschlechtsverkehr: „Nur beim Sex vergesse ich alle Probleme.“ Abends bittet sie ihren Ehemann: „Fick mich ins Leben zurück.“ Da wissen die Zuseher schon, was Elizabeth innerlich treibt – eine psychische Verletzung nämlich. Angst. Horror. Verzweiflung. Szenen zeigen Elizabeths Schock, als ihre drei Brüder bei einem Autounfall sterben. Ab da geht sie wöchentlich in die Psychotherapie zu Frau Drescher. Sie definiert das Trauma als Wunde, die nicht heilen will. Also dreht sich in Elizabeths Kopf alles um den eigenen Tod. Und um Sex – und zwar besessen. Mit ihm versucht sie die innere Dunkelheit zu übermalen.
Warum haben Menschen Sex aus anderen Gründen als der Lust oder der Liebe, der Sehnsucht, des Begehrens? Dazu ein Zitat aus dem neuen Buch „Das Rätsel der Erotik – Lust oder Bindung“ von Wolfgang Schmidbauer. Gleich in der Einleitung schreibt der bekannte Paartherapeut: „Die menschliche Sexualität ist mehr als ein individueller Trieb wie Hunger und Durst.“


Wie ein Mensch seine Sexualität erlebt, einsetzt (oder nicht) und fühlt, ist immer auch abhängig von der biografischen Situation. Sie schwingt stets mit, wenn wir eindringen und eindringen lassen. Lust erzählt also auch eine Geschichte über jemanden. Nicht immer ist diese offensichtlich und auf den ersten Blick erkennbar oder spürbar. Doch gerade im Exzess beziehungsweise in der „Besessenheit“ oder dem Extrem der Sucht kann offensichtlich werden, worum es in der sexuellen Begegnung auch gehen kann: Um Flucht, um Schmerz, um Angst und um das Bedürfnis, sich im Moment der Hingabe zu verlieren. Nicht denken zu müssen und – auf gewisse Weise – auch nicht fühlen. Schmidbauer schreibt ebenso passend in seinem Buch: „Erotische Fantasien und sexuelle Aktionen haben früher das Paar verbunden und ihm die Chance verschafft, sich von Spannungen und Kränkungen zu erholen.“ Im worst case fungiert Sex dann ausschließlich als Wundschmerzheiler, Lexotanil, Speed und Koks zugleich – und das losgelöst von Intimität und echter Zuneigung.


Zweifellos ist der Orgasmus das stärkste Gefühl, zu dem ein Mensch fähig ist. Durch und mit ihm wird es ermöglicht, psychischen Schmerz wie Einsamkeit oder Kränkung zu betäuben. Auf diesem Prinzip basiert etwa Sexsucht. Der Regisseur Steve McQueen (er drehte „Shame“, den Film über einen Sexsüchtigen) hat dazu einen guten Satz gesagt: „Sexsucht hat mit Lust so viel zu tun wie Alkoholismus mit Durst.“ Menschen, die Sex wie eine Droge oder ein Antidepressivum einsetzen und vögeln, um zu flüchten, versuchen der Realität zu entfliehen. Im Orgasmus entlädt sich alles, was unangenehm ist. Für wenige Sekunden zerbricht die Zeit, löst sich alles auf, endet das Denken. Aber eben nur für kurze Zeit, weshalb man sich schon nach kürzester Zeit erneut nach dieser Sekunden-Erlösung sehnt. Und möglicherweise ist der Moment des Höhepunkts auch jener, an dem man sich dem Tod – dem Auflösen – am nächsten fühlt.

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