Michelle über Hürden
freizeit: Jedes Jahr fahre ich mit Freunden nach Italien. Einer der Freunde ist Schlagerfan und hat vergangenes Jahr im Auto ständig Ihren Song „Das Hotel in St. Germain“ gespielt. Wie finden Sie das?
Michelle: Ich finde es toll, wenn die Menschen eine Reaktion auf meine Lieder zeigen. Gerade „Das Hotel in St. Germain“ ist ein gutes Beispiel, weil es eine sehr erfolgreiche Nummer war. Ich finde es schön, mit meinen Liedern ein bisschen in Menschenseelen herumzuwühlen. In welchem Job kann man das schon?
Psychiater vielleicht. Eine Textzeile lautet: „In diesem einen kleinen Raum leben wir heimlich unseren Traum.“ Es geht also um eine verbotene Liebe. Spiegelt sich in Liedern wie diesem Ihr eigenes Leben wider?
„Das Hotel von St. Germain“ hat mir mein Ex Matthias Reim geschrieben – auch Teil 2 „Abschied von St. Germain“, wo der Geliebte stirbt. Aber es gibt natürlich auch Lieder, zu denen ich eine persönliche Verbindung habe. „Der kleine Stern“ habe ich für meine verstorbene Tochter geschrieben, „Die Flügel meiner Ma“ für meine verstorbene Mutter.
Sie sprechen Schicksalsschläge Ihres Lebens an. Der Freund meinte auch: „An Michelle gefällt mir, dass sie nicht so glatt wie Helene Fischer ist. Sie hatte Liebeskummer und war pleite.“ Hätten Sie sich einiges davon nicht lieber erspart?
Natürlich hätte ich das gerne. Es hinterlässt Wunden, wenn man so viele Tiefen hatte wie ich. Gerade in unserer Branche werden Fehler nicht verziehen, weil sie das Reine und die heile Welt repräsentiert. Dieses Image trägt man mit sich. Und wenn ein Künstler ein Leben mit Höhen und Tiefen führt, gibt es schnell Kritiker, die den Finger heben. Da heißt es dann: „Guck mal, die lässt sich tätowieren.“ Oder: „Die hat schon wieder einen Ehe hinter sich.“ Man darf eigentlich kein echtes Leben führen.
Hatten Sie öfter das Gefühl, dass die Menschen sich von Ihnen abwenden?
Nicht nur das Gefühl, es war ja auch so. Viele Menschen sind konservativ und wollen die heile Welt. Und genau das war irgendwann das Problem, weil ich natürlich ein Mensch bin wie jeder andere auch. In den schwierigen Zeiten habe ich viele Fans gewonnen, aber die Heile-Welt-Menschen verloren. Für manche ist man Vorbild und Traumfigur. Wenn dieses Bild kaputt geht, ist das eben furchtbar.
Dabei hat Ihre Karriere so gut begonnen. Sie hatten sehr schnell Erfolg, zum Beispiel in der ZDF-Hitparade. Dachten Sie zu Beginn, es würde immer in dieser Tonart weitergehen?
Ja, ich war ja erst 17. Naiver kann man nicht sein als in diesem Alter.
Wie haben Sie sich denn die Zukunft damals vorgestellt?
Zukunft gab es zu diesem Zeitpunkt nicht in meinem Leben. Für mich war nur der aktuelle Tag das Wichtigste. Als ich dann bei der ersten Hitparade mit „Und heut’ Nacht will ich tanzen“ auftrat, begann für mich ein Leben, das ich so nicht kannte. Ich kam von der Straße und hatte keine Familie, die hinter mir stand. Geschlafen habe ich nachts heimlich im Zimmer einer Freundin, weil ihre Mutter nicht wollte, dass wir Kontakt haben. Als sie morgens geweckt wurde, war ich schon weg, habe untertags die Schule besucht und danach Ravioli-Dosen im Supermarkt geklaut. Und plötzlich passierte was in meinem Leben, das mich rausgerettet hat und in eine Richtung weitergehen ließ, die richtig und sehr gut für mich war.
Warum hatten Sie keinen Familienanschluss oder nicht zumindest einen Pflegefamilie?
Das ist eine Wirr-Warr-Geschichte. Ich erzähle Ihnen die Kurzfassung. Als meine Eltern Gott sei Dank irgendwann getrennt waren, kamen meine Geschwister und ich zuerst zur Mutter, aber dann recht bald zum Vater. Er hatte aber eine Frau, die uns nicht wollte. Deshalb kam ich mit neun Jahren zum Patenonkel. Der trennte sich dann aber auch und ich kam zurück zum Vater, den inzwischen seine Frau verlassen hatte. Sie hatte auch ein drei Monate altes Baby zurückgelassen, für das ich dann mit zehn Jahren verantwortlich war. Das war eine schwere Zeit. Irgendwann hatte mein Vater wieder eine feste Beziehung und ich war eifersüchtig und bin abgehauen.
Uff, starker Tobak. Hat Sie Ihr Vater denn nicht zurückgeholt?
Ich dachte auch, dass er sich irgendwann Sorgen machen wird. Hat er aber nicht. Er meinte: „Wenn du zwei Monate ohne mich ausgekommen bist, kannst du auch wegbleiben.“ Da war ich draußen von zuhause.
War die Musik in dieser schweren Zeit schon eine Hilfe für Sie?
Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich habe immer gesungen und wollte es eines Tages allen zeigen. Das war der einzige Biss, den ich hatte. Ich habe meinem Vater gesagt: „Irgendwann werde ich mit einem Mercedes an deinem Haus vorbeifahren.“ Ich wollte es besser machen, wobei ich nicht wusste, was „besser machen“ war.
Wie ging es dann weiter?
Dann war ich bei einer Familie als Kindermädchen tätig und durfte dort auch wohnen. Der Vater hatte eine Band und probte immer im Keller. Als die Sängerin irgendwann ausfiel, bin ich einfach runtergegangen und habe die Chance genutzt. Von da an sind wir am Wochenende in Bars rumgetingelt, und ich habe so ein wenig Geld verdient.
Wussten Sie um Ihre besondere Stimme?
Ich habe damals erkannt, dass ich vom lieben Gott etwas mitbekommen habe, womit ich was anfangen muss. Ich wusste, dass ich eine einzigartige Stimme habe und habe mich auf die Suche nach einem Studio in Süddeutschland gemacht. Nach und nach bin ich auf die richtigen Leute gestoßen.
Sie sind eine sehr hübsche Frau. Hat Ihnen das damals genützt oder geschadet?
Es gab Produzenten, die dachten, sie könnten ein erotisches Verhältnis zu ihren Sängerinnen aufbauen. Da haben viele meine Fäuste im Gesicht gehabt und ich war wieder weg. Für so eine Art von Karriere war ich mir immer zu fein. Ich habe immer gesagt, dass ich es in meinem Leben anders machen werde als meine Mama. Sie ist jetzt im Himmel. Ein Leben wie sie wollte ich nie. Meine Mutter ist am Alkohol gestorben. Alkoholikerin wollte ich nie sein, dafür eine Frau mit Klasse, die sich nicht wahllos Männern hingibt. Ich habe auch mit meinem Aussehen gespielt, aber im Kern weiß ich heute, wie ich wirke. Damit ist die Sache erledigt.
Sie werden am 15. Februar 43 Jahre alt. Haben Sie jemals etwas an sich machen lassen?
Nein, gar nicht. Schönheit kommt von innen. Wenn man anfängt, über das Alter nachzudenken, verbittert man. Es macht alt, zu sagen: „Scheiße, ich werde jetzt 43.“ Sich selbst toll zu finden, ist eine Arroganz, die jeder Mensch haben sollte. Ich erinnere mich an Strandfotos von Ihnen in der BILD-Zeitung. Sie haben eine unglaublich tolle Figur. Wie kommt’s? Keine Ahnung. Viel Alkohol und Zigaretten. Quatsch! Ich habe vor einem Jahr aufgehört zu rauchen. Ich glaube, dass es Einstellungssache ist. Sport spielt in meinem Leben wohl eine Rolle, aber ich habe jetzt ein halbes Jahr nichts gemacht. Ich ernähre mich relativ gesund. Aber nicht, weil ich darauf achte, sondern weil es mir am besten schmeckt. Ich esse viel Pute, Rind und Reis und trinke außer Apfelschorle keine süßen Getränke. Aber meine Ma hatte sieben Kinder und war auch immer schlank.
Sie haben also sechs Geschwister?
Ich habe eine richtige Schwester und einen richtigen Bruder. Der Rest ist dazugekommen von da und dort. Ich selbst habe vier Kinder. Ronja kam 2009 allerdings tot zur Welt. Vier Kinder sind in der heutigen Zeit auch schon viel.
Hat es Sie je beschäftigt, dass Sie nie so gelebt haben, wie es – unter Anführungszeichen – sein soll: Vater, Mutter, Kinder?
Genau, so wie es sein soll. Das ist wieder dieses Heile-Welt-Denken. Es gibt drei Väter für meine drei Kinder. Das bedeutet in der heutigen Zeit: „Auweia.“ Aber es ist eben, wie es ist. Manchmal sucht man sich gewisse Dinge nicht aus. Matthias (Anm.: Reim) ist auch der einzige Mann, der mich je verlassen hat. Wir sind eine Riesen-Patchwork-Familie und mit Matthias stehe ich heute noch auf der Bühne und singe „Idiot“ mit ihm.
Das Lied wurde bei der Italien-Fahrt auch mehrmals gespielt. „Ich fühl immer noch wie damals, noch genau so du Idiot.“ Haben Sie Matthias Reim jemals verziehen?
Was heißt verziehen? Es gehören immer zwei dazu, wenn was auseinander geht – obwohl man sich schon fragt, warum einer geht. Aber wenn man wirklich darüber nachdenkt, erkennt man, dass die Gründe auf dem Tisch gelegen sind. Es ging nur um den Zeitpunkt. Ich bin kein Mensch, der anderen die Schuld an etwas gibt. Man löst das ja oft auch selber aus. Damit habe ich mich lange beschäftigt. Außerdem sind Matthias und ich nun seit 15 Jahren getrennt. Da ist irgendwann auch eine dicke Schicht Gras drüber gewachsen.
Hat er „Verdammt ich lieb dich“ eigentlich für Sie geschrieben?
Ach, da waren wir doch noch lange nicht liiert. Das war sein erster Hit 1990. Zu dem Zeitpunkt war er mit Margo zusammen.
Komisch. Das Lied klingt jünger.
Absolut nicht. Junge Leute singen das Lied noch heute mit – 3.000 auf einmal, wie ich bei der Schlagerparade gehört habe. Er lebt immer noch von diesem Hit.
Ihre Hits werden am 19. Februar im Wiener Konzerthaus zu hören sein. Spielen Sie denn gerne in Wien?
Das ist eines unserer ersten Konzerte der Tour. Das Publikum in Österreich ist einfach besonders. Die singen alle mit, der Schlager ist noch der Schlager. Die Fans vom Kern sind immer noch da. Die wissen, wie das Leben ist und dass man eben Fehler macht. Ich freue mich auf ein sehr treues Publikum.
Und die Haare bleiben bis dahin dunkel? Schlagersängerinnen sind doch blond.
Eben, deshalb habe ich ja gewechselt. Ich kann das blonde Liebchen-Image nicht mehr haben. Ich bin von Natur aus dunkel und fühle mich damit inzwischen echter. Ich lasse meine Haare auch wieder wachsen und brauche den Kram auf meinem Kopf nicht mehr.
Sie haben schon mehrmals Ihre Musik-Karriere beendet. Danach klingt es derzeit aber nicht, oder?
Nein, um Gottes willen. Ich denke mal, ich bin mitten in der Phase, wo ich mich selbst wieder ein bisschen aufbaue. Ich weiß heute, dass Musik zu meinem Leben gehört und es wird auch immer so sein. Ich liebe mein Leben als Tanja genauso wie mein Leben als Michelle. Ich brauche beides. Sonst werde ich nicht glücklich.
Michelle wurde am 15. Februar 1972 als Tanja Hewer in Deutschland geboren. Nach einer Kindheit auf der Straße und in Pflegefamilien begann sie mit 14 in einer Band zu singen und wurde später von Schlagersängerin Kristina Bach entdeckt. Es folgte ein kometenhafter Aufstieg, ehe sie 2003 einen Schlaganfall erlitt. Depressionen und ein Selbstmordversuch waren die Folge. Zur Erholung zog sich Michelle aus dem Schlagergeschäft zurück und eröffnete 2004 einen Hundesalon. „Eines der besten Dinge, die ich gemacht habe. Ich wollte raus aus dem Unechten.“ 2005 kehrte sie auf die Bühne zurück, erlitt 2007 einen Schwächeanfall und beendete erneut ihre Karriere. 2008 meldete sie Privatinsolvenz an. Seit 2009 steht sie wieder auf der Bühne und scheint geerdet zu sein. Sie lebt mit Freund Mike und drei Töchtern in Holland. „Obwohl mein Leben nie ruhig werden wird. Ich habe gelernt, dass mein Leben ist, wie es ist.“
Michelle kommt mit ihrer Tournee am 19. Februar ins Wiener Konzerthaus. Karten sind unter www.oeticket.com erhältlich. Zuletzt ist ihr aktuelles Album „Die Ultimative Best Of“ erschienen. Infos unter: www.michelle-aktuell.de
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