Von Ameisen lernen

Apokalypse Stau. Michael Horowitz über intelligente Insekten und Verkehrskonzepte der Zukunft.

Die Furcht vor dem Chaos, dem kompletten Stillstand auf den Straßen. Ein Blick in das Jahr 2050: Eine weltweite Blechlawine mit vier Milliarden Fahrzeugen wird auf der Erde unterwegs sein, prognostizieren Verkehrsexperten. Schon heute ist es leicht möglich, wenn man im August auf der Tauernautobahn steht, ein, zwei Bücher zu Ende zu lesen. Schon heute verbringen in Megacitys wie Peking Auto-fahrende Pendler im Schnitt fünf Stunden pro Tag im Verkehrsstau. Schon heute verliert der Durchschnittsamerikaner rund eine Woche pro Jahr, weil er nicht weiß, wo er den nächsten Parkplatz findet oder welcher Highway gerade frei ist. Und in Brasilien gibt es seit langem die extremsten Staus der Welt. Wie vor einem Jahr, als am 23. Mai fast alle Ampeln in São Paulo ausfielen und zusätzlich innerhalb weniger Stunden weit mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter fielen. Die Folge: ein noch nie zuvor dagewesener Mega-Stau von 344 Kilometern Länge.
Das düstere Szenario eines globalen Verkehrskollaps droht. Die Furcht vor dem totalen Stillstand auf unseren Straßen wächst. Innerhalb der nächsten Jahre will man nach Lösungen suchen, um in Zukunft die Apokalypse Stau zu vermeiden. Die graue Eminenz bei Ford Motors Company, William Bill Clay Ford, ist sich wie viele, deren Leben von Autos geprägt ist, der dramatischen Situation bewusst. Sein Urgroßvater Henry Ford (Foto) trägt quasi Mitverantwortung für die heutige Situation auf unseren Straßen. Der Erfinder des legendären Ford T verhalf vor 100 Jahren mit der Einführung der Fließbandproduktion der Automobilindustrie zu ihrem Durchbruch.

„Intelligente Verkehrsleitanlagen mit Sensoren, Kameras und ausgeklügelten Radarsystemen werden die Vision eines vernetzten Verkehrssystems ermöglichen“, ist sich der Ford-Urenkel sicher. Ein vernetztes Verkehrssystem, das Autos mittels Mikrochips miteinander verbindet, warnt dann vor dem nächstmöglichen Stau. Wenn zum Beispiel mehrere Kilometer vor uns bei einem Elefantenrennen ein langsamer Lkw einen anderen langsamen Lkw überholt, wird das auf dem Display unseres Auto angezeigt. Vielleicht kann man so den Stau auf einer alternativen Straße vermeiden. Und „ … wer in den nächsten Jahren ins Auto steigt, muss damit rechnen, auch öfters umzusteigen“, meint Ford, „denn die Fortbewegung von morgen besteht aus der Kombination mehrerer Verkehrsmittel“.

Von Ameisen lernen
A portrait of company founder Henry Ford hangs in the historic Piquette factory in Detroit, Michigan, in this file image from January 5, 2007. Ford, who created the automotive industry's first mass-market hit with the Model T a century ago, was a proponent of radical simplicity. Picture taken January 5, 2007. To match feature AUTOS/COMPLEXITY REUTERS/Gary Cameron/Files (UNITED STATES)

Autofahrer unterwegs hätten schon längst von kleinen Insekten lernen können: Ameisen scheuen überfüllte Straßen. Sie drängeln nicht, lassen einander nach einem gewissen Computerprogramm pulkweise durch, wechseln nie hektisch die Spur. Und halten zusammen eine optimale durchschnittliche Geschwindigkeit. Auch Engstellen werden ruhig und gleichmäßig passiert. Versuche von Wissenschaftlern der University of Sussex demonstrieren deutlich, dass Ameisen keinen Stau mögen. Je häufiger die Tiere beim Nahrungsammeln mit anderen in Kontakt kommen, desto seltener frischen sie die Duftspur auf, mit der ihre Artgenossen auf die gleiche Ameisenstraße gelockt werden. Auf breiten Wegen mit reduziertem Verkehrsaufkommen setzten die Tiere dagegen weiterhin häufig Duftmarken.
In den nächsten Jahren wollen die britischen Biologen um Tomer Czaczkes das Verhalten der intelligenten Insekten noch intensiver erforschen. Auch um in Zukunft den kompletten Stillstand auf den Straßen der Menschen zu verhindern. Damit wir nicht schon bald auf der Tauernautobahn im Stau Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu Ende lesen könnten. 2.154 Seiten.


michael.horowitz@kurier.at

Kommentare