"A bissl wie a Feriendorf"

"A bissl wie a Feriendorf"
333.000 Quadratmeter Ferienglück mitten in der Stadt. Das Gänsehäufel ist mehr als nur ein Freibad – es ist der Lido Wiens. Und ein bissl Jesolo. Ein Tag mit Pensionisten und Studenten, strengen Damen, sportlichen Herren, Banklsitzern, Philosophen und Vorstadt-Casanovas.

Lossn S’ den Strand in Ruah, hean S’!“ Erste Eindrücke mögen emotional ein wenig aufgeladen wirken, man sollte aber auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Schon gar nicht an einem wunderbaren späten Sommermorgen am Weststrand des Gänsehäufels. Immerhin ist das hier der Wiener Lido, und wenn eine Kabanenbesitzerin, also jemand aus der Aristokratie der mehr als 100-jährigen Urlaubsinsel, einem nahelegt, sich zu „schleichen“, dann tut man es einfach. Die resolute Dame im geknöpften Frotteestrandkleid, die keine Lust auf ein Gespräch hat, verfolgt uns mit Argusaugen, bis unsere Gestalten zwischen den grobborkigen Stämmen der alten Pappeln verschwinden. Der einzige Zeuge unseres Rückzugs, ein tief gebräunter Pensionist im Liegestuhl, lächelt zufrieden, während seine Gattin ihm ein zweites Frühstück serviert. Fotograf Gerhard und ich fühlen uns bei ihnen willkommen – auch wenn wir den Blick der Frau in Frottee noch lange zwischen den Schulterblättern brennen spüren ...

In der zweiten Reihe der Kabanen, also denen ohne direkten Alte-Donau-Blick, ist alles ein wenig entspannter. „Woin S’ wos trinken? Heit is' ja scho in aller Frua so haaß“, fragt uns eine Dame, die schon seit ihrer Kindheit hier ihre Sommer verbringt. „Jetz hammas hoit für unsere Enkel“, erklärt sie, und dann, lächelnd: „Ja ja, so is des ...“ – „Bei mir is a scho die Oma do glegen. Genau do, wo jetz’ mei Liegestuhl steht“, schaltet sich eine weitere Pensionistin ins Gespräch ein. „Und jetzat bin i do, mit meim Mann. Am liabsten jeden Tog. Und wissen S’, es hot si no nie wer anderer herglegt, ois wennsas wüssten, dass des unser Platz is.“ Etwas weiter vorn spielen Herbert und Gerda mit ihrem erwachsenen Sohn Karten. Zufrieden sitzen sie an dem kleinen Campingtisch auf ihrer angedeuteten Terrasse. „Es is a bissl wie a Feriendorf. Mit der Zeit kennt ma fost an jeden“, sagt Herbert. Wenn vorn am Weststrand der Lido Wiens ist, dann ist das hier Jesolo. Ein Stück weiter inseleinwärts gibt’s Badeaccessoires jeder Art, quietschbunte Luftmatratzen, Strandmatten, Schlapfen, aufblasbare Schwimmsessel, Delfine und Wale. Eine Kantine neben der anderen. Nur die Discos fehlen. Eigentlich hab’ ich Jesolo immer irgendwie gemocht. Unter einem Sonnenschirm trinken Sepp, Andi und Kathi Kaffee. Sepp und Andi haben Oberarme wie Lkw-Schläuche, unter ihren engen T-Shirts zeichnen sich Sixpacks ab. Ihr Pensionistenalter sieht man ihnen beim besten Willen nicht an. Kathi kann man es nicht ansehen, weil sie davon noch mindestens 35 Jahre entfernt ist. „Jo, a bissl was tuan für di muaßt scho – damitst im Alter a no an Spaß host“, sagt Andi. Kathi lacht. Sie mag keine bladen Männer. Unwillkürlich ziehe ich den Bauch ein, aber das war leider noch nie ein adäquater Ersatz für stundenlanges Training an chromblitzenden Folterinstrumenten. Gleich neben den jungen Alten mit ihrer hübschen Begleitung sitzen die echten Jungen. Allein. Florian und Marc sind zum ersten Mal im Gänsehäufel, sie wohnen erst seit Kurzem in Wien. „Das beste Bad in ganz Österreich“, sagt Florian strahlend und stemmt eine Bierdose. Nein, natürlich liegen sie nicht am Weststrand, der ist für die Silberrücken und Altersblonden. „Am Oststrand und am Wellenbecken da geht’s ab“, erklärt Marc und zwinkert verschwörerisch.

Bei der Kantine gegenüber sitzen Alex und Christian wie zwei Hausherren auf ihrer eigenen Terrassenparty. Rittlings auf den Heurigenbänken, locker an die Hüttenwand gelehnt, die Bäuche zufrieden der Sonne entgegengestreckt. Die beiden Frühvierziger kennen einander seit dem Kindergarten. Und genau so lang gehen sie schon ins Gänsehäufel. Sie haben im selben Jahr geheiratet, ihre Töchter kamen innerhalb zweier Wochen zur Welt. Die beiden sind das, was man unzertrennlich nennt. So wie ihre jetzt achtjährigen Töchter, denen sie ein Eis spendieren. „Imma wemma frei hobn, kumman ma mit die Madln her. Die san do quasi aufgwachsn“, erklärt Christian. „Früher hamma scho einiges erlebt do, i kennt dir Sachen erzähln ...“, sagt Alex und grinst breit. „Oba heit samma brav. Wir tan nur mehr a bissl schaun – und des is jo net verbotn.“ – „Klass warat’s jo, wann s’ a bissl länger offen hättn“, sagt Christian, „so mit Musik am Abend, essen, trinken ...“ – „Jo, und die ganzn Bsoffenen foin dann ins Wasser und dersaufn. Des geht net – do brauchatn s’ ja dreimoi so vü Bodewaschln wia togsüber“, wirft Alex ein. „A wieda wohr“, sagt Christian traurig. Und, zu mir: „Heast, mi kennt jeder ois ,Lindwurm'. Den Alex ois ,Ploinerboy'. Nennst uns so, in deiner Gschicht?“. Na sowieso. „Klass, du bist a Freind.“ Ein wenig abseits, allein, wie ein braungebrannter Wolf in knapper Badehose, sitzt Leo, die Ray Ban an der Nasenwurzel festgewachsen.„Lllllleo“, sagt er und spricht das „L“ so dick aus wie wir aus dem Westen Österreichs das unser Lebtag nicht lernen werden. „Net Poldi oda so an Schaaß. Llllleo – der Llllöwe, des bin i.“ Fotos? Mit einer lässigen Handbewegung winkt Leo ab. „Des kann i ma net leisten“, sagt er. Über dem Goldrand seiner Sonnenbrille heben sich vielsagend zwei perfekt gewölbte schwarze Augenbrauen. Gefärbt? Gebürstet? Gezupft? Ich kann nicht sagen, ob er meinen Blick auffängt, da ich mich in seiner Sonnenbrille nur skurril verzerrt selbst sehe, aber es wirkt wie eine Erklärung auf meine unausgesprochene Frage, als er plötzlich sagt: „A bissl schaun muaßt scho auf di. Hoar in da Nosn oda in die Ohrn – des geht gar net.“ Von Leo weiß ich jetzt jedenfalls auch, wo im Gänsehäufel die WC-Anlagen stehen, obwohl diese so gut wie nie benutzt werden. Wofür dann dieses Wissen? „Da geht scho was mit die Hasen da, brauchst net glaubn. Schau umme am Oststrand, durt san vü alanig. Oda vurn bei die Becken. Und grad die jungen Mütter gfrein si imma, wenn ma s' anspricht.“ Wow – unter diesem Blickwinkel hab’ ich das Wort „Badevergnügen“ noch nie betrachtet. Nein, stimmt nicht. Als 16-Jähriger waren es gerade Gedanken wie diese, die mich so regelmäßig wie erfolglos im Salzburger Freibad herumlungern ließen.

Wie angekündigt, gehört der Oststrand hautsächlich der Jugend. Gruppenweise hängt man ab, Mädels wie Jungs in bestechender körperlicher Verfassung, vom guten alten Tretbootfahren kann das nicht kommen, vielleicht ja vom Stand-up-Paddeln, das ziemlich angesagt zu sein scheint. „Ist einfach cool hier“, sagen Anastasia, Kevin und Patrick, die auf ihren Handtüchern im Gras liegen und aufs graublaue Wasser schauen. „Man trifft immer ein paar Freunde hier – und Leut’, die man nicht treffen will, sieht man auch kaum, weil's so groß ist.“ Dann schauen sie wieder an mir vorbei aufs Wasser, wahrscheinlich gehöre ich zu den Leuten, die sie eher nicht sehen wollen, vielleicht sind sie auch nur gerade in einer für die Entwicklung eines jungen Erwachsenen ungeheuer wichtigen Chill-out-Phase, da will man nicht weiter stören. Patrick scheint zum Abschied beinahe unmerklich zu nicken, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Unter den alterskrummen Weiden stehen einige Kinderwagen im Schatten, aber den Teufel werd’ ich tun und mit einer der Mütter sprechen, dazu ist die Angst, für einen Leo gehalten zu werden, viel zu groß. Tief im Süden, am Kinderspielbecken, stolpere ich dann doch über Manuela und ihren Sohn Angelo. Sie ist hübsch und freundlich und erzählt, dass sie selbst schon mit ihrer Oma hierher gekommen ist. Außerdem seien die Leut' nicht so lästig wie in anderen Bädern ...

Das Wellenbecken scheint tatsächlich zu rocken, hier treffen sich die Kids, Mädchengruppen stolzieren zwischen Wasser und Wiese auf und ab, Jungs, meist pärchenweise, sehen ihnen nach, stoßen einander gegenseitig spitze Ellbogen in die Rippen, veranstalten sekundenschnelle Schauringkämpfe oder lehnen lässig an den zerklüfteten Borken der mächtigen Pappeln. Alex liegt mit seinem Freund Patrick auf bunten Badetüchern. Hier sei alles viel relaxter als in anderen, kleineren Bädern, erklären sie mir. Was alles? Die beiden grinsen einander an. „Na das mit den Mädels – das willst doch hören, oder?“ Hin und wieder werden sie sogar angesprochen, erzählen sie weiter. „Also, die sind sogar schon zu uns kommen – genau da her!“ Und wie sie da so liegen, entspannt und freundlich lächelnd, könnten sie ihren dauerboxenden und rempelnden Alterskollegen vielleicht sogar ein paar Tipps geben, wie man's anstellt, dass „alles“ so relaxt läuft ...

Dragan, der den ganzen Tag mit einem Elektroauto unterwegs ist und Badegäste chauffiert, nimmt mich ein Stück mit. „Schee langsam“, sagt er zu dem älteren, korpulenten Herren neben ihm, als der aussteigen will. „Jo jo, schnö geht's eh net“, erklärt der ächzend, als er sich in einem zähen Ringen Zentimeter um Zentimeter von der Kunststoffbank des Wagens erhebt. Dragan arbeitet seit drei Jahren im Gänsehäufel. Er liebt seinen Job.

„Den ganzn Tag da im Freien, am Wasser – und ma lernt so viele Menschen kennen!“ Wie zum Beweis winkt ihm ein zarter Mann in Begleitung einer großen Frau. „Seawas Dragan, nimmst mi mit?“ – „Eh kloar. Host a neiche Freindin?“ Der zarte Mann wirft einen kurzen Blick auf die Frau neben ihm. „Na, is eh die söbe Oide.“ – „Dann hot sie oba a neiche Frisur, oder?“ – „Waß i net. Host?“ Die große Frau errötet sanft. „Ja“, sagt sie schließlich und lächelt Dragans Bild im Rückspiegel an. Bei den Kantinen steige ich aus. Leo schüttelt enttäuscht den Kopf, als er sieht, dass ich allein vom Oststrand zurückkomme ... „Heast seavas – setz di her do!“ Ploinerboy und Lindwurm, meine beiden neuen Freunde, winken von ihren Stammplätzen an der Pizzakantine. „Mogst a Bier? Bist eh scho außer Dienst oder?“, fragt Ploinerboy und startet Richtung Selbstbedienungsfenster. „Er is net bei der Polizei, sondan bei da Zeitung“, brummt der Lindwurm ihm nach. „Und?“, sagt er zu mir. „Eh super.“ Der Lindwurm nickt in seinen Spritzer und lehnt sich zufrieden an die Holzplanken der Kantine. „Sog i jo.“ – „Wo san die Kinder?“ – „Ah“, der Lindwurm lacht, „die san im Kaschperltheater vurn.“ – „Fesch san die“, sagt Ploinerboy, während er mir die eiskalte Dose vor die Nase stellt und es sich auf der Heurigenbank bequem macht. „Wer?“ – „Na die zwa Frauen, die des Kaschperltheater mochn.“ – „Echt?“ – „Jo.“ – „Woher waßt du des, ma siagt doch nur de Puppn?“ – „Zufällig hint einegsegn, letzte Wochn.“ – „Echt?“, sagt der Lindwurm nochmals und hebt beinahe unmerklich den Kopf. Wir sprechen über Musik, Fernsehserien, Kinderfilme, bei denen man sich mit einem Mal besser auskennt als bei den angesagten Blockbustern für Erwachsene. Die Sonne beginnt, sich über dem Weststrand zu senken. Die kleine Ferienwelt bekommt einen goldenen Glanz. Unsere Blicke folgen drei mediterranen Schönheiten, die kichernd, mit Jollys und Brickerln bewaffnet, an uns vorübergleiten. „Sche is' do“, sagt der Lindwurm, ohne den Kopf zu wenden, „nur schad, dass des ois so schnö vorbei is.“ Vielleicht meint er wieder die Zeit bis zur Sperrstunde, vielleicht die Kasperltheateraufführung, in der er seine Tochter gut aufgehoben weiß. Vielleicht ja auch den Sommer, oder die ganzen Jahre, seit er als Kind mit seinem Freund Alex und den Vätern hier gesessen ist. Oder einfach das Leben. „Ja“, sagt Ploinerboy und nimmt einen tiefen Schluck. „Ja“, sag ich, während ich in die Abendsonne blinzle.

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