Was in westlichen Bundesländern die Almhütte, ist im Osten Österreichs die Kellergasse. Eine bauliche Besonderheit, die mehr und mehr zu einem Wahrzeichen ganzer Regionen wird. In Niederösterreich etwa gibt es sie sonder Zahl – an die 1.100 Kellergassen sind im Weinviertel vermerkt. Im Burgenland sind sie ebenfalls gern gesehen und besucht. Und auch in Wien haben sie eine bleibende Heimat gefunden.
Gut 200 Jahre sind viele der Weinkeller und alten Presshäuser in besagten Gassen alt. Erst ziemlich genau zwanzig Jahre ist es hingegen her, dass der Autor und ausgewiesene Weinviertelkenner Alfred Komarek mit seinem Gendarmen Simon Polt diesem fast vergessenen architektonischen Kleinod ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Seither schwirrt die Kellergasse als Mikrokosmos des sinnlichen Genüssen nicht abholden Homo Austriacus in den Köpfen jener, die ihre Zukunft sichern wollen.
Gut so. Denn nicht überall macht sich der gefühlte Kellergassen-Boom breit. So kann es vorkommen, dass Besucherinnen aus einem Nachbarland eine Kellergasse in Wien passieren, aber nur Augen für ein anderes Ziel haben. Etwa: „Wo geht’s denn hier zum Bisamberg?“
Während Google Maps bei den Wanderinnen sichtlich für Verwirrung sorgt, schafft Winzer Hans Peter Göbel mit einer Geste Klarheit. „Sie sind fast schon mitten drauf“, teilt er ihnen mit und zeigt Richtung Nord-West. Zur Elisabethhöhe wollen sie, meinen sie.
Der Name der ehemaligen Kaiserin wirkt für sie wie ein Magnet. Wir haben anderes vor, lassen die Damen ziehen und widmen uns der Arbeit, besser gesagt: dem Leben.
Wir befinden uns hier am oberen Ende der Stammersdorfer Kellergasse. Von hier aus genießt man einen perfekten Seitenblick ins benachbarte Niederösterreich und ist doch noch in Wien. Denn nicht nur in Grinzing wächst, was in den eingangs erwähnten Kellergassen zu Hause ist. Der Wein.
Für alle, die so weit am Rand der Stadt wohnen, ist die önologische Idylle ein Dauerzustand. Für andere gilt: Wer etwa mit dem 31er den weiten Weg hierher findet, kann schon ganz gut eine Jause vertragen. Kein Problem. Winzer Göbel und Heurigenwirt Helmut Krenek teilen sich dieselbe Adresse. Unten, im Keller, wird ge- und der Wein verarbeitet. Oben, auf der Terrasse, serviert „Wirtshauskind“ Krenek zum Gemischten Satz aus „eigenem Haus“ Rohschinken vom Strohschwein und andere Köstlichkeiten. Eine Win-win-Situation zum Angreifen. Und zum Schmecken. Herrlich.
Win-win & der Wein
„Wahrscheinlich bin ich der Einzige in der Gasse, der ernsthaft einen Wein herstellt“, sagt Hans Peter Göbel und kramt einen alten, riesigen Schlüssel hervor. Stimmt. Bei den anderen Häuschen in der Stammersdorfer Kellergasse registrierten wir nur den Durchzugsverkehr.
In die Röhre schauen
Wir gehen fast zwei Dutzend Stufen hinunter in den Keller. Es ist kalt – „um die zwölf Grad Celsius das ganze Jahr über“ – und es riecht nicht gerade nach frischer Luft. Hier wohnt der Wein, Rot und Weiß, und das einträchtig in Holzfässern und Stahltanks in zwei benachbarten Kellerröhren.
Es ist still, fast schon beklemmend still. Nur die Lampen surren leise, wenn man das Licht aufdreht. Dem Wein gefällt das. Immerhin lagert er hier Monate, wenn nicht gar Jahre lang. Und da will er nicht gestört werden. Seit Jahrzehnten nicht.
Wieder zurück auf der Gasse rumpeln gleich dicke Autos auf dem Kopfsteinpflaster vorbei. Laut. Willkommen in der Gegenwart.
Damit die Stammersdorfer Kellergasse auch außerhalb der spätsommerlichen und herbstlichen Festtags-Wochenenden wieder an Attraktivität zunimmt, schlägt der Winzer die Schaffung einer Begegnungszone vor. Und bauliche Veränderungen, um auch breiteren landwirtschaftlichen Fahrzeugen die Durchfahrt zu ermöglichen. Man will ja nicht nur feiern, sondern auch arbeiten.
Leben in den alten Gassen
Ortswechsel. Niederösterreich bemüht sich schon seit Jahren, die Attraktivität der Kellergassen zu heben. Von E-Bike-Touren durch ausgewählte Kellergassen bis zur Stimulierung des Immunsystems in der Kellerröhre reicht das Angebot. Von Touristen aus nah und fern wird das gerne angenommen. So haben nicht nur die Nächtigungszahlen in den letzten Jahren stetig zugenommen, mittlerweile kümmern sich mit den „Kellergassenführern“ mehr als 600 ausgebildete Experten darum, die wechselhafte Geschichte dieser alten, beengten Presshäuser wieder ans Licht zu bringen.
Es war einmal...
In Poysdorf etwa, neben Hollabrunn ein Zentrum des Weinviertels, soll es schon vor dem Jahr 1800 Kellerröhren in den Seitenwänden von Hohlwegen gegeben haben. Sobald die Obrigkeit den Bauern erlaubt hatte, im Nebenerwerb Winzer zu sein, waren genau das die Plätze, wo Trauben gepresst und die Weine gelagert wurden. Kleine Häuser darüber gemauert, und fertig war die Kellergasse. Allein im Weinviertel gibt es etwa 1.100 davon.
Dass keine Kellergasse der anderen gleicht, klingt wie einfach so dahergeredet, aber es stimmt. Es gibt die romantische wie den von Bäumen überdachten Radyweg in Poysdorf. Die ausladendste wie die in Hadres im Pulkautal mit einer Länge von 1,6 Kilometern. Die einmal ihrer Schönheit wegen prämierte wie am Galgenberg in Wildendürnbach. Und natürlich gibt es auch einige verlassene und weniger herzeigbare. Eines aber eint sie. Sie alle liegen nah bei den Weingärten.
Keller im Burgenland
Der Adel und die Rittersleut’ verstanden schon immer zu genießen. Daher wächst gerade in der Nähe von Schlössern und Burgen viel Wein. So ist auch nicht verwunderlich, dass das Burgenland ebenfalls Hüter einer außergewöhnlich idyllschen Kellergasse ist – jener in Purbach.
Ihr 750-Jahr-Jubiläum feiert die Stadt am Westufer des Neusiedler Sees im kommenden Jahr. Als Weinbaugemeinde ist Purbach auch schon ganz schön lange bekannt – seit anno 1632. Damals erteilte eine kaiserliche Urkunde von Ferdinand II. Purbach das „Privilegium auff die freye Weinausfuhr fver eigenthumblichen Paw Wein vber die Leytha in das Erzherzogthumb Österreich under der Enns vnd andere Länder.“
Als „Dörfer ohne Rauchfang“ gelten sie in Niederösterreich. Gewölbe ja, aber keine Kochstelle.
Die historische Kellergasse in Purbach hingegen hat sich in eine vorzeigbare Genussmeile mit aneinandergereihten Restaurants, Heurigen und Vinotheken verwandelt. Und sie gibt einen unzweideutigen Hinweis darauf, wem dieser lukullische Reichtum zu verdanken ist – dem Urmeer.
Fossilienwelt und Weinparadies
Vor 17 Millionen Jahren umgab das heutige Wien ein tropisches Meer mit zahlreichen Bewohnern. Erst vor wenigen Jahren wurde auf dem Gelände der „Fossilienwelt“ in Stetten im Bezirk Korneuburg – auch dort gibt es natürlich Kellergassen – das weltgrößte fossile Austernriff freigelegt.
Als der Salzburger Koch Daniel Pugel vor fünf Jahren in Purbach einen der alten Keller zu seinem ersten eigenen Restaurant ausbaute, fielen ihm merkwürdige Einschlüsse, etwa von Muscheln, im Boden und an den Wänden auf. Im Nu hatte er einen Namen für sein Restaurant, richtig: „Fossil“.
Kenner schwören darauf, dass sich eine Erinnerung an diese Urzeit bis heute in der Mineralik der Weine dieser Gegend erschmecken lässt.
Schon das allein ist ein Grund, warum es einen spätestens im Spätsommer in zumindest eine der vielen Kellergassen in und rund um Wien ziehen sollte.
Nachdem heuer der traditionelle „In die Grean gehen“-Frühlingsgruß der Weinviertler Winzer coronabedingt vertagt werden musste, gibt es wirklich viel aufzuholen. Nicht nur, um zu beweisen, dass an dem Wienerlied, das Hans Moser vor einer halben Ewigkeit dahernuschelte, nichts mehr dran ist. „In der Kellergass’n, i kanns gar ned fassen, sitz i ganz verlassen auf einem Stein, an nassen und i wein’.“
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