Formvollendete Fantasie

Formvollendete Fantasie
Die wahren Abenteuer sind im Kopf – und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie an der Wand! Über Generationen hin beflügelten (weltweit) gezeichnete Pin-up-Girls die ausgemalten Fieber-Fantasien aller Männer. Das große Geheimnis? Der Zauber ist sauber.

Ein Pin-up ist eine Abbildung, die üblicherweise eine Frau in erotischer Pose zeigt und die an eine Wand geheftet wird.“ Tja, damit wäre – jedenfalls laut Wikipedia – alles gesagt. Alles und zugleich nichts. Die historischen Gebrauchsgemälde bergen weit mehr als bloße Entblößung und aufreizenden Anreiz – sie sind seismografische Sammlerstücke der Sehnsucht & Sinnlichkeit aus fernen Tagen formvollendeter männlicher Fieberfantasien, als die Bilder noch im Kopf und nicht im Internet gemütsaufhellende Gestalt annahmen. Die US-Verlegerin Dian Hanson (63), Chronistin der koketten Kunst, geht mit ihrem Standardwerk „The Art of Pin-up“ (siehe Seite 44 unten) dem Phänomen auf den Grund: „Wirtschaftslage, globale Erwärmung oder allgegenwärtige Pornografie sind daran schuld – viele sehnen sich nach einfacheren Zeiten. Bringt uns zurück, als Zigaretten noch schick, dunkles Fleisch exquisit und Cocktails famos waren, bevor mächtige Konzerne und ihre Regierungen, industrielle Farmbetriebe und Massenentlassungen noch nicht an der Tagesordnung waren, bevor Meere und Bienen starben – und als Frauen noch mehr zu bieten hatten und weniger zeigten.“

Pin-ups von einst als heftige Leidenschaft und als Leidenschaft fürs Geheftete. Ja, es gab sie, die verklungenen Zeiten, als das Nicht-Gezeigte noch alles bedeutete. Die verlockende Vorstellung „anhand“ der verruchten Verstellung ersetzte die gynäkologische „Genauigkeit“ der Gegenwart. So wie heute noch in Japan galt auch nur die leiseste Andeutung von Schambehaarung als undenkbar und tabu. 1971 gab der legendäre peruanische Mädchen-Maler Alberto Vargas dem „Playboy“-Gründer Hugh Hefner nur nach, weil er fürchtete, sonst seinen Job zu verlieren. Die dargestellten Frauen sollten wie „zufällig“ in ihren an- und aufregenden Posen eingefangen erscheinen. Über allem schwebte der moralische Konsens der Epoche: Der Zauber ist sauber!

Wer kennt sie noch, die Begriffe „kokett“, „kess“ oder „tändlerisch“? Wer weiß noch, was „frech“, „frivol“ oder gar „freizügig“ einmal bedeuteten? Ja, es gab sie, die verklungenen Zeiten, als das Nicht-Gezeigte noch alles verhieß. Was sind denn schon zwei Milliarden Treffer im Worldwide Web zum Suchwort „Porno“ gegen den, in Milliarden unschätzbaren, Sehnsuchtsbegriff Erotik? „Fantasie“, sagte der polnisch-deutsche Aphoristiker Gabriel Laub (1928–1998) nicht von ungefähr, „ist etwas, was sich die wenigsten vorstellen können.“ Die künstlerische Darstellung weiblicher Reize ist wohl so alt wie der Mensch selbst – die Höhlenzeichnungen beschränken sich nicht bloß aufs zu erlegende Wild, der animalische (An-)Trieb der „Alphamännchen“ schloss seit jeher auch die Trophäe der wildentschlossenen, paarungswilligen, jedenfalls dazu fähigen, Partnerin mit ein. Das „Bild von einer Frau“ beseelt den Jäger, Sammler und Eroberer über die Jahrhunderte hin – wohl und wohlig der Chipkarte der Schöpfungsgeschichte gehorchend und die Segnungen der Evolution schnöd ignorierend. Doch zurück in die Zukunft! Der entscheidende Schritt, so die Autorin Dian Hanson, „zum echten Pin-up“ vollzog sich im Ersten Weltkrieg. Ein Abschnitt der Geschichte, in dem das „Konzept der Propaganda“ geboren wurde, das sich aus Sigmund Freuds Sozialpsychologie ableitet.

Mädchen in hauchdünnen gewagten Kleidchen und Uniformen ermahnten die tauglichen Männer Amerikas frech und flirtend zum fanatischen Fronteinsatz. Der Schritt zum Spekulationsobjekt der Spinde war ein kurzer – Träume von daheim, wo brave und blitzsaubere Bräute ihrer harrten, nahmen (ent-)faltbare Figur an. Später, im Zweiten Weltkrieg, erreichten die Pin-ups nach Jahrzehnten des Vorspiels den Höhepunkt. Ganze Kasernen-Quartiere, U-Boote, Zelte, Panzer und Flugzeug-Cockpits waren tapeziert mit Träumen vom sehnsüchtig wartenden Siegeslohn – sprich: von der, auch sexuell, verheißungsvoll schmachtenden Frau daheim. Spätestens seit der Erstausgabe des „Playboy“ (im Dezember 1953) verschob sich das Sittlichkeitsempfinden. Das Foto bedrohte die ausgemalte Fantasie. Der legendäre Peruaner Alberto Vargas (1896–1982), der „seinen Pinsel wie seinen Penis“ schwang, wie es Blattgründer Hugh Hefner so sabbernd wie schwärmerisch formulierte, weigerte sich beharrlich – oder etwa behaarlich? –, „pelzbesetzte“ weibliche Schamregionen in seinen kostbaren (und niemals kostverachtenden) Karikaturen sichtbar werden zu lassen. Freilich nur so lange, bis ihm der Auftraggeber widrigenfalls die Entlassung als Rute ins Fenster stellte. Auch in erotischer Ekstase bestanden – so Hefner, dem Vernehmen nach – seine Leser „haaargenau“ auf den Reiz des Realismus. Es war eben nie relevant, ob die dargebotenen Posen seiner Pin-ups eine tatsächliche gesellschaftliche „Entsprechung“ in irgendeiner puritanisch-amerikanischen Wirklichkeit gefunden hätten – es zählte ausschließlich die, profund erahnte, seelische Befindlichkeit. Zum doppelbödigen Versteckspiel gehörte die, an der moralinsauren gestrengen Zensur dieser Tage, die sogar Filmküsse in amtlich vorgegebenen handgestoppten Sekunden maß, vorbeigeschummelte „Zufälligkeit der Erotik“. Tausende Pin-ups – so gezeichnet wie bezeichnend – zeigen junge, attraktive Frauen in Alltagsmisslichkeiten. Stets überhäuft mit Einkäufen oder Geschenkpaketen rutscht ihnen – wie von Zauberhand bewirkt oder einem unberechenbaren Wind geschuldet – die Unterwäsche runter. Darob gerieten offenbar die Betrachter, frei nach dem Schlachtruf „Bon Voyeur!“, völlig aus dem Höschen, pardon: Häuschen. Pin-ups sind demnach ein Sittenspiegelbild ihrer Tage – jener fernen fantasiegefütterten Tage, als das Erahnte und das Herbeigesehnte, das Herausgelesene und das Hineingeheimniste, das Dazugedachte und das Ausgemalte noch Stoff genug waren für unsere Träume.

Formvollendete Fantasie
TASCHENVERLAG

The Art of Pin-up
Dian Hanson,
Sarahjane Blum,
Louis Meisel
Hardcover, 546 Seiten,
Hunderte Bilder, ca. 150 €

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