Wo Samba? Schnee & Schmäh von gestern
Geboren 1937 als Antonio Paulo de Souza in Rio de Janeiro. Fußball spielte er bis zu seinem 14. Lebensjahr barfuß. Als Ball beim Kickerl auf der Straße diente ein Knäuel aus Wollsocken und Papier. 1950, als Brasilien gegen Uruguay um den WM-Titel spielte, hing das Land gebannt am Radio. „Das Viertel, in dem ich wohnte“, sagt er, „war mit Lampions und Girlanden geschmückt. Die Mutter hatte schon ein Festessen bereitet. Wir waren sicher, wir gewinnen.“ Als Uruguay dann mit 2:1 siegte, schwieg seine Mutter für zwei Tage.
Als der Bub, mittlerweile als „Paulinho“ ein Begriff, bei den Spitzenvereinen Botafogo und Flamingo Fuß gefasst hatte, traf er auf Jahrhunderttalente wie Garrincha (siehe ABC) und wusste: „Die werd’ ich nie erreichen.“ Ein findiger Manager lotste den pfeilschnellen, schussgewaltigen Rechtsaußen in Richtung Europa. So landete er nach erfolglosen Etappen in Lissabon und Marseille im Winter 1962 auf der Hohen Warte bei der Vienna, die damals noch in Österreichs Oberhaus eine Rolle spielte. Von der Transfersumme (geschätzte 200.000 Schilling, heutiger Wert gut 70.000 €) sah er maximal ein Zehntel, dafür erstmals in seinem Leben Schnee. „Beim ersten Spiel“, erinnert er sich, „hab ich das 1:0 gegen Rapid geschossen und bat in der Pause den Trainer, mich auszuwechseln – ich dachte, ich erfriere vor Kälte.“
Innerhalb seines ersten Jahres in Wien lernte Paulinho drei Sätze: „1. Bist deppert? 2. Spü o, du Trottel! 3. Bitte eine Schweinsstelze!“
Halt boten ihm die Landsleute Jacaré (der erste „Murl“ Österreichs, eine Säule der Austria) und Chico (Meister mit dem Linzer ASK 1965). Jacaré, der seinen Namen – übersetzt „Krokodil“ – dem Umstand dankte, als Bub zwar mit Schuhen gespielt zu haben, deren kaputte Sohlen aber wie ein Reptilienmaul auf- und zuklappten, starb 2010 in Tirol im Rollstuhl. Chico verlor nach der Karriere jeden Boden unter den Füßen. Er endete 1994 erbärmlich als Pflegefall im Armenhaus. Paulinho hingegen „überlebte“ als Letzter der schwarzen Perlen dank Sponsor „Schuhhandel Berger“ als Lieferant und ist heute rüstiger Pensionist in Wien. Er hat vier Kinder aus erster Ehe, darunter die als Online-Modeunternehmerin erfolgreiche BWL-Magistra Pia (37). Drei Monate pro Jahr verbringt er, mit zweiter Frau, alljährlich in seiner Heimat. „Der Nationalsport in Brasilien“, schmunzelt er, „ist übrigens Volleyball.“ Wie bitte? „Ja, weil Fußball ist bei uns nämlich Religion!“
Nächste Woche: Die Top 10 der denkwürdigsten Spiele der WM-Geschichte
Zum zweiten Mal also (nach 1950) eine WM im eigenen Land. Brasiliens Wunde von damals (siehe Seite 76: Bitterste Stunde) sitzt tief: Niederlage gegen Nachbar Uruguay im alles entscheidenden letzten Spiel. Seit dieser Schmach spielte die Nationalmannschaft nie wieder in weißen Dressen. Wie kam der Fußball nach Brasilien? Wie überall auf dieser ballrunden Welt: durch die Engländer. Charles William Miller, Sohn eines eingewanderten Eisenbahningenieurs aus Southampton, packte 1894 zwei Lederkugeln ein, seine als Kaufleute in Rio erfolgreichen britischen Countrymen und Buddies gründeten bald die ersten Clubs, zu denen auch die Erzrivalen Flamengo und Fluminense zählten, deren Stadtderby („Fla-Flu“) bis heute 370-mal über den Rasen fegte.
Erster Topstar war Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Ingenieurs und seiner brasilianischen Wäscherin aus São Paulo. Als „Mischling“ war der gottbegnadete „Pé de Ouro“ (Goldfuß) freilich nur in Ausnahmefällen fürs Team („Seleção“) zugelassen, wollte die herrschende weiße Oberschicht doch lieber „unter sich“ bleiben. Unfassbar: Bei Ligaspielen wurden oft Fouls an dunkelhäutigen Kickern nicht einmal geahndet – auch Friedenreich war Freiwild. Aber das ließ ihn erst so trickreich, wendig und genial werden: Er konnte meist gar nicht gefoult werden, weil ihn keiner erwischte! Laut Statistik des Weltverbands FIFA schoss er 1.329 Tore, um 49 mehr als Pelé! Sein Pech: Als 1930 die erste WM stattfand, war er mit 38 Jahren schon zu alt. Seine größte Tat für den Fußball: Er erfand den Bogenschuss, also die Technik, den Ball so anzuschneiden, dass er mit „Effet“ – Wienerisch: „Fett’n“ – verwirrende und schwer zu berechnende Kurven beschreibt. Das physikalische Phänomen wurde vom Schweizer Daniel Bernoulli (1700–1782) entdeckt. Die Nachfolger Friedenreichs – von Didi bis Roberto Carlos – verfeinerten dank immer besserem Schuhwerk und leichteren Bällen diese Feinheit des „folha seca“ (= trockenes Blatt, das „tot“ ins Netz fällt).
Neben dem Jahrhundert-Genie Pelé, das sich nach der sagenhaften Karriere mit drei WM-Titeln weltweit gegen die erektile Dysfunktion einsetzt („hängende Spitze“, könnte man in der Fußballersprache witzeln), ragen Garrincha, Sócrates, Romário, Rivaldo, Ronaldo, Ronaldinho und, als größte Hoffnung für 2014, Neymar historisch heraus. Das Reservoir an Talenten scheint schier unerschöpflich: 5.000 (!) Brasilianer spielen als Legionäre in den Profi-Ligen rund um den Erdball. Sogar in Haiti, im Libanon oder auf den Färöern. In Österreich ist Red-Bull-Salzburg-Stürmer Alan (eigentlich: Douglas Borges de Carvalho, siehe „ABC der Künstler“ auf S. 77) aktuell im Fokus. Die Pioniere von der Copacabana waren vor einem halben Jahrhundert Austrianer Jacaré, LASK-Perle Chico und der „kaffeebraune“ Vienna-Import Paulinho (Interview S. 76, 77) – allesamt als Exoten bestaunt. Paulinho galt etwa als begehrte „Trofeo“ unter weiblichen Fans ... Auch er hatte einst barfuß mit Fußball begonnen. Heute ist, im Vergleich zum hohen Niveau der Brasilianer seit gut 50 Jahren, eher die Konkurrenz bloßhappert. Was die Gastgeber 2014 zu Gasgebern in Richtung Titel (Nr. 6) machen könnte, ist die zum Spielwitz neu gewonnene Härte. Oder, frei nach Pelé: „Gestreichelt wird der Ball, nicht der Gegner.“
Zehn Minuten vor Schluss gelang Uruguay der Siegtreffer durch Alcides Ghiggia (rechts unten): „Nur drei Menschen haben mit einer einzigen Bewegung das Maracanã zum Schweigen gebracht: Sinatra, der Papst und ich.“ Im Stadion kam es zu Selbstmorden, das Land versank in Agonie. Der Tormann Brasiliens, Moacyr Barbosa (2000), wurde zum Sündenbock: „Für Mord gibt es 30 Jahre, ich bekam lebenslang.“ 1993 wollte er das Training der Seleção besuchen, aber man wies ihn ab, weil er Pech bringen würde.
Das Maracană-Stadion von Rio de Janeiro: Zur WM 1950 erbaut mit einem Fassungsvermögen von knapp 200.000.
A wie Américo (genannt „Pombo Correiro“, Brieftaube, 1990), Maskottchen, Masseur, Medizinmann 1950–1974
B wie Bebeto (José Roberto Gama de Oliveira), Weltmeister 1994, 76 Spiele, 42 Tore.
C wie Cafu (Marcos Evangelista de Moraes), 3 WM-Finali, 142 Spiele, Weltmeister 1994, 2002.
D wie Didi (Valdir Pereira, 2001), Freistoßkönig, Regisseur für Pelé, Weltmeister 1958, 1962.
D wie Dante (Bonfim Costa Santos), Bayern-Verteidiger von Weltruf.
E wie Everaldo (Marques da Silva, 1974 bei einem Autounfall), Weltmeister 1970.
F wie Falcão (Paulo Roberto), heute TV-Kommentator.
G wie Garrincha (Manoel Francisco dos Santos, 1983 an Alkoholismus), Weltmeister 1958, 1962.
H wie Hulk (Givanildo Vieira de Souza), Stürmer bei Zenit-Petersburg, physisch fast so furchteinflößend wie die gewaltige Film-Comic-Figur - das findet auch so manch ein verkleideter Fan.
Nächste Woche in Teil 2: von J wie Jairzinho über P wie Pelé bis Z wie Zico
Kommentare