Mauerblümchen

Sie gibt der Stadt ihre Gestalt: Luccas Stadtmauer ist vier Kilometer lang und mehr als zwölf Meter hoch
Seit 500 Jahren lebt man in Lucca im Schatten einer mächtigen Mauer. An einem Ort, der die Sinne belebt. Und in der Heimatstadt Giacomo Puccinis, eines Lebemanns mit enormer Libido.

Ein Lebemann der italienischen Belle Epoque. Ein eitler, eleganter, dauererregter Faun, der die Frauen wie Freiwild vor sich hertreibt. Ein leidenschaftlicher Jäger, der auf alles schießt, was sich bewegt – sogar mit einer Pistole ballert er Vögeln hinterher, wenn ihm die Schrotpatronen ausgegangen sind. Und er ist der stolze Besitzer von 14 Autos: Giacomo Puccini, der die Opernwelt mit pathetischen Schmachtfetzen wie Nessun dorma zum Weinen bringt. Privat lässt es sich der Maestro gut gehen. Mit seiner Macho-Männer-Clique zieht er sich zwei Mal pro Woche zum Kartenspielen in den Club La Bohème zurück, in dessen Statuten sich die Mitglieder verpflichten mussten gut zu trinken und noch besser zu essen. Bereits seine dritte Oper „Manon Lescaut“ wird zum Welterfolg, der unternehmungslustige Herr mit dem Faible für Luxus und Geschwindigkeit kann sich die exklusivsten Autos leisten: Vom De Dion-Bouton aus dem Jahr 1901, der noch einer behäbigen Postkutsche ähnelt, bis zum rasanten V 8-Lancia Trikappa von 1923 mit einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 130 km/h.

Mauerblümchen
Giacomo Puccini --- Image by © CORBIS

Seine zu Recht rasend eifersüchtige Frau Elvira kann nur beruhigt schlafen, wenn der Bonvivant nachts mit Hut im düsteren Komponier-Kammerl sitzt und bis zum frühen Morgen Noten schreibt. Ansonsten jagt er mit juveniler Besessenheit ständig una vagina fresca nach. Die Gattin projiziert all ihre Wut auf das Dienstmädchen Doria – als Schlampe, die es heimlich mit ihrem Ehemann treibe, verleumdet sie das schüchterne Bauernmädchen. Verzweifelt vergiftet sich Doria und bittet, dass man nach dem Tod ihre Jungfräulichkeit feststellen solle – mit Erfolg.

Giacomo Puccini, einer der erfolgreichsten Komponisten aller Zeiten wird von Musikexperten lange Zeit nicht ernst genommen. Opernfans hat er jedenfalls mit „La Bohème“, „Tosca“ und „Madame Butterfly“ schon immer Emotionsexplosionen geschenkt. Maestro Puccini ist der bedeutendste große Sohn einer einzigartigen Stadt: Lucca. Einem pittoresken Gesamtkunstwerk in der Toskana, das einer Bühne gleicht. Mit einer Kulisse, in der sich – wie bei Puccini – kleine Alltagsgeschichten und große Gefühle harmonisch ergänzen.

Vor 500 Jahren beginnt man im Kampf gegen die Expansionsversuche der großen Schwester Florenz einen Stadtwall zu bauen. Anfang des 19. Jahrhunderts wird die mächtige Mauer aus rötlichem Ziegel mit Tausenden Schatten spendenden Ulmen, Pappeln und Platanen zur Passeggiata delle Mura, zu einer Promenade mit Bänken, ausgebaut. Vormittags verzehren hier Schüler ihr Pausenbrot und abends genießen Liebespaare ihre ersten zarten Berührungen. Die mehr als vier Kilometer lange und zwölf Meter hohe Stadtmauer bietet den Bewohnern von Lucca ein Gefühl des Schutzes und der Geborgenheit. In einer Kleinstadt mit einer seit Jahrhunderten kaum veränderten urbanen Struktur, in der Elemente aller historischen Epochen harmonieren – und der Autoverkehr fast zur Gänze außerhalb der Mauer endet. Schon zeitig am Morgen überzieht ein zarter, anregender Kaffeeduft die schmalen Gassen der Innenstadt. In der Bar Regina, dem Stella Polare oder dem Caffè del Mercato nehmen die Luccheser auf dem Weg ins Büro ihren ersten Cappuccino – mit dem liebevoll geformten Herz im Milchschaum. Das Zischen der Espressomaschine belebt die Sinne. Der Tag kann kommen.

In Lucca erwartet Besucher jene toskanische Liebenswürdigkeit, die im touristisch überforderten Freilichtmuseum Florenz fast geschwunden ist. Die kleine, in sich geschlossene, aber zugleich weltoffene Stadt ist wahrscheinlich eine der elegantesten der Welt. Romanische, gotische und barocke Bauten reihen sich wie eine Perlenkette aneinander. Wohlstand wird diskret gelebt, man legt Wert auf Tradition. Hier gibt es sie noch, die Antiquitäten-Fundgruben, die kleinen Confiserien, die Buch- und Delikatessen-, Schirm- und Handschuhgeschäfte, die überall sonst immer mehr den glitzernden Luxus-Flagship-Stores weichen müssen. In Lucca wird Beständigkeit gepflegt – ob im Eisenwarengeschäft, in dem die Schrauben noch in Seidenpapier eingepackt werden. Oder bei Carli, dem ältesten Juweliergeschäft Italiens, in dessen kunstvoll holzgeschnitzten Vitrinen seit 1665 prachtvolle Preziosen funkeln. Im mächtigen Tresor aus dem Jahre 1700, der mitten im Geschäft thront, ruhen die erlesensten, handgefertigten Schmuckstücke. Kunstvoll hergestellte Süßigkeiten wie den besten buccellato, ein ringförmiger Kuchen, der mit Rosinen und Nüssen gefüllt ist, findet man seit mehr als 150 Jahren in der Konditorei Taddeucci. Sogar die New York Times schwärmte davon. Das legendäre Caffè di Simo ist leider seit kurzem geschlossen. Hier pflegte man früher das Konzert der Freundschaft. Die Via Fillungo war ein Ort der Begegnung – für Dichter und Dandys, Musiker und Mäzene. Giacomo Puccini traf sich hier mit Arturo Toscanini. Puccinis letzte Oper wurde 1926 in der Mailänder Scala uraufgeführt. Es dirigierte, zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten, sein Freund Toscanini.
Erstmals seit vier Jahren wird im krisengeschüttelten Italien heuer ein (zartes) Wirtschaftswachstum prognostiziert.

Crostini und Cantucci, Pizza und Polpette: Genießen fällt in Lucca leicht, beispielsweise hier, auf der Piazza dell’´Anfiteatro

Und einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistet die Toskana, mit ihrer Mode- und Möbelindustrie oder die von Dubai bis Monte Carlo geschätzten Luxusyachten. Aber auch die Innovationen junger Unternehmer in Lucca tragen etwas zur Erholung der maroden italienischen Wirtschaft bei: Seit kurzem hat man die traditionelle Seidenherstellung wiederentdeckt. An der Piazza dell’´Anfiteatro, einem der stimmungsvollsten Plätze der Stadt, haben sich selbstbewusste, kaum 30-jährige Unternehmerinnen niedergelassen, um die erlesenen Stoffe mit antiken Ornamenten in einer eigenen Weberei herzustellen. Und sie in die ganze Welt zu exportieren.

Essen und Trinken gehört zu den angenehmsten Erfahrungen, um eine Stadt und deren Menschen kennenzulernen. Dazu hat der Fremde in Lucca reichlich Gelegenheit, bei Crostini und Cantucci, Peperonata und Polpette, Ravioli und Risotto, in all den meist liebevoll betriebenen Bars, Osterias und Trattorien. Vor einigen Jahren hat man versucht, in Lucca eine Festung gegen Fastfood aufzubauen. Von vielen als gastronomischen Faschismus verurteilt, wollte man unter dem Motto Esst Schinken und Salami! Lokale mit nichtitalienischen Speisen verbieten. Ein Versuch, der nicht geglückt ist. Das Verbot neuer ethnischer Lokale hielt nicht lange. Auch in Lucca gibt es weiterhin Burger und Kebab, Sushi und Frühlingsrollen.

In diesem Sommer wird es hier laut. Am 10. Juli rockt Billy Idol die Piazza Napoleone, am 11. Juli gibt sich Sir Elton John die Ehre, am 23. Juli Robbie Williams und am 26. Juli Lenny Kravitz. Trotz Ticket-Preisen mit bis zu 300 Euro sind Karten fast nur mehr im Schleich zu bekommen. Und am Torre del Lago, etwas außerhalb von Lucca, direkt an den Ufern des Sees, findet das Puccini Festival statt. Auch dafür dürfte es bald nur mehr Karten am Schwarzmarkt geben. Hier hat der Maestro früher im Sommer gejagt und komponiert. Heuer gibt man vom 24. Juli bis 31. August „Tosca“, „Madame Butterfly“ und „La Rondine“. Mit unsterblichen Belcanto-Arien wie jedes Jahr – seit 1930.

WOHNEN

Holiday Home: Eine spektakuläre Villa südwestlich von Lucca mit fantastischem Blick auf die Stadt und einem Traumpool, für bis zu acht Personen, 7.093 Euro pro Woche, frühester freier Termin vom 30. Mai bis 6. Juni. www.booking.com

Albergo Celide: Ein gediegenes 4-Stern-Hotel im Zentrum mit neuem, großzügigem Spa-Bereich. www.albergocelide.it

ESSEN

Osteria Bastian Contrario: In der familiären Atmosphärem der etwas engen Osteria gibt es im Herbst das vielleicht beste und billigste Trüffel-Menü Italiens. www.bastiancontrariosteria.it

Osteria da Pasquale: Hier legt man auf lokale, traditionelle Rezepte wert. Wirt Pasquale Gubitosa war 20 Jahre auf Luxus-Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Jetzt ist er nach Lucca, in die Via del Moro, zurückgekehrt. Große Weinauswahl. www.dapasquale-lucca.com

La Buca di Sant´Antonio: Dort wo in der früheren Poststation die Pferde gewechselt wurden, speist man heute auf höchstem Niveau. Vitello tonnato!m www.bucadisantantonio.com

Schutz und Geborgenheit: Die Stadtmauer sollte Lucca gegen die Expansionsversuche von Florenz absichern.

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