FILE PHOTO: Teens discuss Australia's social media ban for under-16s, set to take effect December 10, in Sydney

Verliebt in einen Influencer? Parasoziale Beziehungen auf dem Vormarsch

Wenn wir Beziehungen zu KI oder Stars aufbauen, die wir gar nicht kennen, bezeichnet man das als parasozial. Das Cambridge Dictionary kürte dieses Phänomen soeben zum Wort des Jahres.

Ein Mann räkelt sich im Bett. Die Morgensonne blinzelt durch die Fenster seiner kalifornischen Hochhauswohnung und eine Frauenstimme dringt an sein Ohr: „Guten Morgen, Theodor, du hast in fünf Minuten ein Meeting. Willst du vielleicht versuchen, aufzustehen?“ Der Mann muss lächeln, doch ein Kameraschwenk zeigt, dass er allein ist. Die vertraute, warme Stimme: ist die Software in seinem Smartphone.

Ob Joaquin Phoenix 2013 geahnt hat, dass er in keinem Science-Fiction-Film mitwirkt, sondern vielmehr eine – wenn auch leicht überspitzte – Zukunftsversion skizziert, als er im Spielfilm „Her“ den professionellen Briefeschreiber Theodore mimt, der sich in seine KI verliebt?

 

Ein richtiges Verlieben ist heute zwar der seltene Extremfall. Doch die Entwicklung, dass wir parasoziale Beziehungen zu Künstlicher Intelligenz oder Stars und Influencern aufbauen, die wir gar nicht persönlich kennen, ist mittlerweile so verbreitet, dass das Cambridge Dictionary soeben „parasocial“ zum Wort des Jahres erklärt hat.

Jede zweite Person

Vergangenes Jahr hat die University of Exeter 1.080 Personen aus dem Vereinigten Königreich und den USA zu ihren parasozialen Beziehungen befragt. Das Ergebnis: 52 Prozent der Befragten gaben an, eine starke parasoziale Beziehung zu haben. 36 Prozent sagten, sie fühlten sich einem YouTuber nahe.

Das zugrunde liegende Phänomen ist nicht neu, erläutert Psychotherapeutin Ines Gstrein vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie: „Viele von uns haben wohl als Teenager die Zimmer mit Postern unserer Lieblingsstars plakatiert.“

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Psychotherapeutin Ines Gstrein sieht parasoziale Beziehungen per se nicht nur negativ. 

©ÖBVP

Und doch kam mit den sozialen Medien eine radikale Veränderung. Früher haben wir vielleicht eine einzelne Homestory des Stars in der Gala gesehen, Wochen später einen Schnappschuss in der Instyle gesehen. Heute nehmen uns Influencer mitunter täglich mit ins Badezimmer. „Durch die ständige Sichtbarkeit des Stars, oftmals im persönlichen Umfeld seiner eigenen Wohnung, entsteht der Eindruck, als würden wir diese Person gut kennen.“

Nun sieht Ines Gstrein parasoziale Beziehungen per se nicht nur negativ. Gewisse Menschen könnten von parasozialen Beziehungen sogar profitieren. „Wenn ich eine ängstliche oder unsichere Person bin und reale Beziehungen vermeide, kann ich mich über parasoziale an reale Nähe herantasten.“ Es kann auch Trost spenden, wenn ein Star Schwäche zeigt; es kann inspirieren wenn eine Influencerin preisgibt, in Psychotherapie zu gehen. 

Und doch kommt an dieser Stelle ein großes Aber: Wenn paarsoziale Nähe echte Beziehungen ersetzt, muss man aufpassen.

Echte Bindungshormone

„Wie bei so vielen Phänomenen geht es um achtsamen Konsum“, sagt die Psychotherapeutin. Ebenso wenig wie wir uns Tag für Tag den gleichen Film oder die gleiche TV-Serie ansehen, ist es nicht ratsam, pausenlos Reels, Storys und Posts derselben Person zu verfolgen

Denn es ist verlockend: „Unser Gehirn“, ergänzt Ines Gstrein, „unterscheidet erstaunlich schlecht zwischen echter und medial vermittelter Nähe.“ 

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Influencer können große Einflussnahme auf ihre Stars haben.

©REUTERS/Isabel Infantes

Wenn uns also YouTuber mit direktem Blickkontakt und einem vertrauten „Hey Leute!“ansprechen, wenn sie uns an vermeintlich intimen Momenten teilhaben lassen, dann schütten wir tatsächlich Glücks- und Bindungshormone aus.

In „Her“ bindet sich Joaquin Phoenix als Briefeschreiber Theodore so sehr an seine KI-Software Samantha, dass er nicht nur das Handy umgedreht in seine Brusttasche steckt, damit sie über die Handykamera die Umgebung wahrnehmen kann – er vernachlässigt auch seine echten Freunde.

Was, wenn sich also eine Freundin oder ein Sohn einer einseitigen Freundschaft hingibt? „Man sollte das klar ansprechen“, sagt Ines Gstrein. „Man darf sagen, dass man die Person vermisst. Erklären, dass es keine Wechselseitigkeit gibt. Im Gespräch bleiben – und somit echte Beziehung aufbauen.“

In „Her“ wird Theodore erst wachgerüttelt, als Samantha ihn für andere KIs verlässt. Im Schmerz der Entzauberung kann er endlich in Freundin Amy eine menschliche Verbündete sehen.

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Schreibt seit 2021 als freie Autorin aus London für den KURIER über Politik, Royals und Lifestyle. Zuvor acht Jahre in der Wien-Chronik.

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