„Eine sexpositive Haltung fordert, dass alle Menschen, egal welche sexuellen Vorlieben und Vorstellungen sie haben, und welches Beziehungskonzept sie leben, respektiert und Teil der Gesellschaft sein dürfen“, so Roidinger. In der Sexualwissenschaft gibt es keine Norm, kein „richtig“, kein „falsch“, kein „gesund“ oder „ungesund“. Sexpositive Menschen fühlen sich von Andersartigkeit nicht bedroht, sie erleben Menschen mit anderen sexuellen Vorlieben als Bereicherung und ermutigen jeden, seinen individuell richtigen Weg zu finden, um Sexualität und Beziehung authentisch zu leben. „Die wichtigste Grundlage dafür ist der Konsens. Alle Beteiligten müssen zustimmen, wertschätzend miteinander umgehen und auf Augenhöhe sein, damit das funktioniert“, so Roidinger.
Miteinander kommunizieren
Genau das macht den Begriff „sexpositiv“ für die Arbeit der Sexualberaterinnen so faszinierend wie wertvoll. „Denn um das zu leben, müssen Menschen vor allem gelernt haben, miteinander zu kommunizieren. Wir fordern schon lange eine sexualpädagogische Aufklärung, auch für Erwachsene. In jenem Sinne, als es um den Dialog geht. Er ist wichtig, denn nur Kommunikation führt zu sexuellem Lernen“, sagt Roidinger. Sexualität sei weder etwas Schlechtes noch etwas Gottgegebenes, sondern tatsächlich etwas, das gelernt und geübt werden kann, immer wieder anders und immer wieder neu. Hier spielen sexpositive Formate wie Workshops, Festivals oder Jahresgruppen eine wesentliche Rolle. Und so kann eine bewusste, achtsame und respektvolle Haltung entstehen, die dem individuellen Begehrensprofil eines Menschen wertschätzend und bejahend gegenübertritt.
Von großer Bedeutung ist die Rolle des Konsens: Er erfordert eine hohe soziale Kompetenz – dabei muss ein Mensch fähig sein, zu schauen, wo er über seine Schatten springen und wo er sich „dehnen“ kann. Wo muss ich Grenzen setzen, wo kann ich mich öffnen, etwas Neues oder Ungewohntes zulassen? Hier werden oft tiefe Ängste berührt, etwa Verlassenheitsangst. Umso wichtiger ist es, dass nichts tabuisiert wird oder im Geheimen geschieht. Es braucht Offenheit für neue Sichtweisen, einen erweiterten Handlungsspielraum und die Möglichkeit, wohlwollend über eigene Bedürfnisse zu sprechen, ohne dass die Wünsche des Partners abgewertet werden. Auf diese Weise entstehen mehr Möglichkeiten – um auszuwählen, zu gestalten, oder um Bestehendes zu verändern.
Auch für klassisch Monogame
Das sexpositive Lebensgefühl können im Übrigen auch Menschen in klassisch-monogamen Beziehungen realisieren. Es bedeutet schlicht, dass sich Paare trauen, hinzudenken, was sie wollen, ob’s passt oder ob sich etwas in der Sexualität im Laufe der Zeit verändert hat. „Das bedingt ein hohes Maß an Persönlichkeitsentwicklung. Wenn ich mich mit meiner Sexualität auseinandersetze, zu meinen Bedürfnissen stehe und zu jenen meines Gegenübers, dann entwickle ich mich auch persönlich weiter. Es ist gelebte Selbstverantwortung.“ Abgesehen davon ist eine sexpositive Haltung natürlich auch hedonistisch: „Weil sie Sexualität als wesentliche Quelle für ein gesundes und erfülltes Leben versteht“.
Buchtipp: Roidinger/Zuschnig: „Sexpositiv. Intimität und Beziehung neu verhandelt.“ Goldegg, 200 Seiten, 22 €.
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