KURIER: Sieben-Tages-Inzidenz, Replikationsfaktor, Quarantäne, Vakzin, Mutation … Durch Corona sind viele Fremdwörter in den Sprachgebrauch übergegangen. Weiß jeder, was die Wörter bedeuten?
Ruth Wodak: Viele Menschen wissen höchstwahrscheinlich nicht, was mit den wissenschaftlichen Fachtermini genau gemeint ist. Von Politik, Medien und Kommentatoren werden diese Begriffe aber seit Monaten unhinterfragt verwendet. Ungeachtet der Tatsache, dass wir alle kein Fachwissen haben. Es wäre ratsam, wenn diese Begriffe jeweils kurz definiert würden und Medien etwa kleine Lexika (Begriffsdefinitionen) bereitstellen würden, in denen die Begriffe so erklärt werden, dass jeder sie verstehen kann.
Welchen Begriff verwenden und verstehen wir seit Corona?
Pandemie ist wohl so ein Begriff. Er war vor der Corona-Krise eher nicht geläufig. Es steht jedoch zu hoffen, dass jetzt jeder weiß, was damit gemeint ist.
Die Britin (Jg. 1950) ist Sprachwissenschafterin und lehrte an der Uni Wien sowie der Lancaster University. Forschungsgebiete: kritische Diskursforschung, Sprache und Politik, Identitäts- u. Vergangenheitspolitik, Gender Studies, Vorurteilsforschung zu Rassismus und Antisemitismus.
Neben Fachtermini bedienen sich Politik, Experten wie Medien auch englischer Begriffe. Gibt es für „Lockdown“ und „Social Distancing“ kein deutsches Wort?
Es gibt nicht wirklich ein Wort in der deutschen Sprache, das so kurz und prägnant zusammenfasst, was wir unter Lockdown verstehen. „Ausgangssperre“ oder „Ausgangsbeschränkung“ besagt jeweils etwas anderes. „Herunterfahren“ wird beispielsweise auch in Bezug auf das Herunterfahren von Atomreaktoren verwendet und ist damit eher negativ konnotiert. Spricht man von „Hochfahren“ oder „Herunterfahren“, müsste immer dazu gesagt werden, was genau wann und wo herunter- oder hochgefahren wird. „Lockdown“ fasst all diese Bedeutungen gut zusammen.
„Social Distancing“ ist meiner Meinung eine falsche Begrifflichkeit, weil es nicht darum geht, dass wir uns von unseren sozialen Beziehungen distanzieren sollen; sondern darum, dass wir Abstand halten. „Physical Distancing“ oder körperliche Distanz wäre eine adäquate Begrifflichkeit, denn soziale Nähe sollten wir gerade in Zeiten der Krise halten. Am besten wäre, man würde einfach von „Abstand halten“ sprechen.
Gibt es ein deutsches Wort für "Homeoffice"?
"Heimarbeit“ hat eine gänzlich andere Bedeutung. "Homeoffice“ als Arbeitsmodell kommt aus dem angloamerikanischen Raum. Der Begriff ist jedenfalls neutral, wenn nicht gar positiv besetzt und hat möglicherweise für manche einen coolen Anstrich.
Der Babyelefant hat sich durchgesetzt, wiewohl es Elefantenbaby heißen müsste und niemand weiß, wie groß ein solches Tier ist …
… das ist ein geschickt gewählter Slogan, weil damit ein Bild kreiert wurde. Wir wissen alle: Ein Bild sagt oft mehr als tausend Worte. Ein Bild vermittelt etwas, worunter sich alle etwas vorstellen können; wenn auch häufig etwas Verschiedenes. Bilder erlauben nämlich eine Menge von Interpretationen. Außerdem wecken Tierbabys positive Emotionen.
Yuval Harari hat seinen Bestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit“ als Graphic Novel herausgebracht. Wenn Bilder helfen: Sollte man dazu übergehen, mehr Corona-Comics zu zeichnen?
Verbildlichen hilft sicher beim Verstehen. Allerdings ist es sicher ratsam, Corona in Wort und Bild zu erklären, da man begriffliche Präzision anstrebt.
Um beim Tierreich zu bleiben: „Herdenimmunität“ würden Sie als neutralen Begriff einstufen?
Es handelt sich um einen wissenschaftlichen Fachterminus, den wir wahrscheinlich als epidemiologische Laien zunächst nicht gekannt haben. Daher gab es jede Menge von Missverständnissen, etwa: Nur Tiere gehören Herden an. Insofern wird der Mensch dem Tier gleichgesetzt und damit quasi entmenschlicht, was zunächst keine positiven Assoziationen weckt.
In vielerlei Hinsicht sind all diese Begriffe nicht gerade geschickt gewählt. Massentest suggeriert, dass eine große Menschenmenge sich gleichzeitig testen lässt. Stattdessen hätte man von „Gratis-Tests“ sprechen können, um das negative Bild einer Menschenansammlung, die das Infektionsrisiko erhöht, zu vermeiden. „Freitesten“ hat mindestens zwei Bedeutungen: Es steht für „frei“ im Sinne von kostenlos; und "frei“ im Sinne von „sich von der Quarantäne oder dem Lockdown befreien“. Allerdings – und das führt eben zu viel Kritik – weiß man nicht, für welchen Zeitraum die "Freitestung“ gilt (24 Stunden? 48 Stunden? eine Woche?) Auch dies muss präzisiert werden.
Sind "Eintrittstests“ logischer und selbsterklärender?
Sie sind logischer, doch auch hier fehlt – wie bei den schon genannten Begriffen – die Präzisierung. Und ohne Präzisierung wird teils gefährliche Verwirrung gestiftet. Die Menschen müssen wissen, wie alt ein Test sein darf, um Eintritt in Kino, Theater oder Gasthaus zu bekommen. 24-Stunden-Eintrittstest oder -Freitestung könnte beispielsweise all das zusammenfassen.
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