KURIER: Denkt man an Frauen und Narzissmus, hat man gleich eine Paris Hilton mit Selfie-Kamera vor Augen. Ist dieses Bild zutreffend?
Bärbel Wardetzki: Mit Klischees ist das so eine Sache – Paris Hilton hat sicher eine narzisstische Struktur, ob es Narzissmus ist, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall verstärken Selfies, soziale Medien und die Präsentation im Netz narzisstische Prägungen. Wir haben heute mehr narzisstische Spielfelder denn je, durch Bildbearbeitungs-Apps kann sich jeder auf seine ideale Weise darstellen – das fördert die Größenfantasien.
Warum wird so wenig über narzisstische Frauen gesprochen?
Das ist eine gute Frage. Es gibt sogar Psychotherapeuten, die sagen, es gebe keinen weiblichen Narzissmus. Vielleicht liegt es daran, dass wir heutzutage immer noch Narzissmus mehr mit der männlichen Grandiosität verbinden als mit einer eher weiblich verdeckten Form.
Wie äußert sich weiblicher Narzissmus im Vergleich zu männlichem?
Zur narzisstischen Struktur gehören grundsätzlich beide Seiten, die Selbsterhöhung und die Selbsterniedrigung. Die männliche Form betont die Selbsterhöhung, die weibliche die Selbsterniedrigung. Narzisstische Frauen zeigen eine selbstbewusste, perfekte Fassade, fühlen sich innerlich aber unsicher und minderwertig. In die Therapie kommen sie häufig wegen Beziehungsproblemen, Essstörungen oder Selbstwertkrisen. Die grandiosen narzisstischen Menschen hingegen sind so oft mit ihrer Selbsterhöhung identifiziert, dass sie das Gefühl, schwach und minderwertig zu sein, gar nicht mehr spüren.
Die narzisstische Fassade ist also ein Schutz vor dem Gefühl der Minderwertigkeit?
Ja; die Frau versucht, einem Ideal zu entsprechen, um ihren Selbstwert aufzubauen: ein perfektes Äußeres, besondere Leistungen, Erfolg im Job. Erst dann hat sie das Gefühl, wertvoll zu sein, ohne diese Eigenschaften fühlt sie sich minderwertig und nicht liebenswert. Wo narzisstische Männer nach Macht streben, versuchen Frauen, sich schön zu machen.
Schon kleine Mädchen werden für ihr Aussehen gelobt. Ist die Erziehung ein Teil des Problems?
In der Regel ist es so, dass narzisstische Strukturen durch unsichere Bindungen und Selbstwertverletzungen in der Kindheit entstehen. Im Laufe der Entwicklung können sie kompensiert werden, sodass es nicht zu einer narzisstischen Persönlichkeit kommt. Wenn das Kind aber lernt, dass das Bild von ihm wichtiger ist als seine Person, wird die Frau später mehr mit ihrem Bild identifiziert sein, als zu zeigen, wie sie wirklich ist.
Reality Soaps, Influencerinnen, die Kardashians: Gefühlt sind wir umgeben von prominenten Narzisstinnen. Welche fallen Ihnen ein?
Es ist wichtig zu wissen, dass wir alle narzisstische Anteile haben, die mehr oder weniger ausgeprägt sind. Doch nur ein kleiner Teil hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Das sind dann Personen, die im sozialen Bereich auffallen, wie Trump oder Anna Wintour. Ihr wird eine narzisstische Persönlichkeit nachgesagt, wobei sie auch mehr dem grandiosen Typ zuzuordnen ist.
Den Wechsel von Selbstzweifeln und Selbstvertrauen kennen viele Frauen. Wann wird es kritisch?
Die Betroffene kann sich fragen: Was passiert mit mir, wenn ich nicht perfekt aussehe oder nicht so erfolgreich bin, wie ich es von mir verlange? Fällt sie in eine Selbstwertkrise, wäre es gut, sich Hilfe zu holen. Ist sie nur enttäuscht, ist das natürlich. Der erste Schritt ist, sich einzugestehen, dass man neben der selbstbewussten Fassade auch eine andere, verborgene Seite hat, die durch Selbstabwertungen gefördert wird. Wenn Frauen lernen, sich nicht mehr zu entwerten, sondern sich positiv zu betrachten, haben sie schon einen großen Schritt getan.
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