Fast ganz in Weiß: Besuch bei den Lipizzanern
"Wenn nichts kommt, dann geht’s“, sagt Rudi Hansbauer, zieht die Signalkelle raus und stellt sich mitten auf die schmale Reitschulgasse. Dienstagfrüh in der Wiener Innenstadt. Wer jetzt zufällig beim Michaelerplatz um die Ecke geht, kriegt große Augen. Die Lipizzaner sind da!
Mehrmals am Tag werden die wertvollen Pferde von ihren Stallungen in die Winterreitschule geleitet, eben quer über die Reitschulgasse. Ein Schulweg für das „weiße Ballett“, eine willkommene Show für die Passanten.
„Wir waren letztes Jahr hier“, kommentiert ein Vater die Szenerie, seine beiden Kinder fest an der Hand. Am Leuchten in ihren Gesichtern spürt man, dass es wohl bald ein Wiedersehen geben wird.
Institution auf 4 Hufen
Warum auch nicht? Als Hüterin des Kanons der Klassischen Reitkunst zelebriert die Spanische Hofreitschule zwar seit jeher Lektionen mit Jahrhunderte alter Tradition. Das aber mit jugendlichem Elan. Und mit dem Drang, sich kontinuierlich neuen Kreisen gegenüber zu öffnen. Erst jüngst outete sich etwa der Schriftsteller Wladimir Kaminer („Russendisko“) mit einer gewitzten TV-Doku als Fan der Institution auf vier Hufen.
Aber von Anfang an. Vor Kurzem wurde das 450-Jahr-Jubiläum der Hofreitschule gefeiert, heuer noch stehen einige Termine zum Thema „100 Jahre Lipizzanergestüt Piber“ an. In Zeiten von Covid-19 kein einfaches Unterfangen. Wie jedes größere Büro hat auch die Hofreitschule ausnahmslos alle seine Mitarbeiter – ob auf zwei Beinen oder auf vier Hufen – in Teams aufgeteilt.
Müsli als Futter
Für den Fall der Fälle ist man also gewappnet. Auf Gesundheit und Fitness wird ohnehin viel Wert gelegt. Man sieht es ihnen an – allen, die wir in den Stallungen und den Gängen des schönsten Reitsaals der Welt antreffen: Eleven, Bereiter sowie Oberbereiter und die Pferde natürlich. Die Lipizzanerhengste – insgesamt 72 an der Zahl – werden von der Mähne bis zum Huf so sorgsam wie Supermodels behandelt. Und als Nahrungsergänzung erhalten sie individuell abgestimmte „Müsli“-Portionen.
„Jedes Pferd verarbeitet das Futter auf seine Weise“, erklärt Lipizzaner-Arzt Christian Tanczos. „Das ist wie bei uns Menschen: Manche können Schokolade riegelweise verschlingen, ohne dass man es ihnen anmerkt. Andere müssen damit eher haushalten.“
Zurück zum Morgentraining. Elevin Michaela hat das ihr zugewiesene Pferd, Maestoso Riga, schon gestriegelt, gefüttert und geherzt. Jetzt führt sie es vom Stall hinüber in die barocke Winterreitschule.
Capriole, Courbette & Co.
Sowohl für Michaela als auch für Junghengst Riga ist es noch zu früh, sich an artistische Figuren wie die Capriole und die Courbette heranzutasten, aber das wird schon. Acht bis zehn Jahre dauert die Ausbildung zum Bereiter.
Pferde haben noch mehr Zeit, sich zu entwickeln. Hier sind sie im Schnitt 20 Jahre alt. Eigentlich das perfekte Alter für eine Midlife-Crisis. Denn Lipizzaner können ein ganz schön hohes Alter erreichen. Von Neapolitano Nima I., dem Methusalem seiner Zunft, musste man im vergangenen August Abschied nehmen. Er wurde 40 Jahre alt.
Pferdekenner wissen: Umgerechnet auf Menschenjahre wären das 120 ausgefüllte Jahre. Eine Sensation. Mit Andreas Harrer hatte Nima I. seinen ganz persönlichen Bereiter, der sich um seine Ausbildung und sein Wohl kümmerte.
Vielleicht werden Riga und Michaela dereinst auch so eng zusammenwachsen. Zeit haben sie jedenfalls beide noch genug, selbst wenn das Leben hier nicht immer einem Ponyhof gleicht.
Exklusiver Club
Elevin Michaela hat die erste Hürde schon geschafft. Sie ist nach drei Jahren Stall ausmisten im Morgengrauen immer noch dabei. „Es kommt schon vor, dass jemand die Ausbildung abbricht, weil ihm oder ihr die Arbeit zu schwer ist“, weiß sie aus Erfahrung.
Nur zwei bis drei Reitschüler, eben die Eleven, werden pro Jahr in diesen exklusiven Club aufgenommen. Bei Andreas Hausberger war das vor 36 Jahren der Fall, 2007 wurde er Oberbereiter.
Und das mit Herz und Seele. „Unsere Tätigkeit in der Spanischen Hofreitschule ist kein Job, das ist unser Leben“, ist er überzeugt. Und was er noch meint, zeigt seine Demut vor dem stolzen Tier: „Ein Pferd ist auch ohne Bereiter ein Pferd. Aber ein Bereiter ist ohne Pferd kein Reiter mehr.“
Die Gäste unter der Lupe
In der Zwischenzeit hat sich in der 1735 von Joseph Emanuel Fischer von Erlach fertiggestellten Winterreitschule das Publikum für das öffentliche Training eingefunden. Von verschlafenen Kindern bis zu betagten, aber aufgeweckten Pferdenarren ist alles dabei, was Lipizzanern Freude macht.
Wie bitte? Ja, bei der Morgenarbeit, bei der einzelne Lektionen wie die Passage oder die Arbeit am langen Zügel gelernt und verfeinert werden, gewinnt man durchaus den Eindruck, dass nicht nur die Gäste die Pferde beäugen. Auch die Lipizzaner nehmen das Publikum genau unter die Lupe.
„Dass die Pferde ein ausgesprochen stürmisches Temperament aufweisen, sieht man an der Freude, wie sie Figuren wie die Kapriole vollführen“, erklärt Oberbereiter Andreas Hausberger. Aus dem Stand und mit angezogenen Vorderbeinen.
„Auch die ihnen oft nachgesagte Kontaktfreudigkeit zählt zu einem ihrer hervorstechendsten Wesenszüge.“ Dies und der kompakte Körperbau machen Lipizzaner zu perfekten Protagonisten der Hohen Schule der Reitkunst.
Weiße Pferde und Wiener Walzer
So wie sie in der Winterreitschule zu den Walzerklängen oder dem Radetzkymarsch scheinbar tanzen, könnte man sogar glauben, die Pferde wollten die Gäste zum Mitmachen animieren.
Dass sie verspielt sind, dürften Lipizzaner in den Genen haben. Als älteste Kulturpferderasse Europas sind sie Kinder jener Zeit, als die Renaissance in das Barock überging.
„Damals entdeckte man die klassische Reitkunst der Antike wieder, die von Sokrates-Schüler Xenophon begründet wurde“, erzählt Andreas Hausberger. Und er überrascht mit einem weiteren Detail.
Spanische Karster
Lipizzaner hießen nicht immer so. Ursprünglich lautete die Bezeichnung dieser Pferderasse „Spanischer Karster“. Erst als die Habsburger sich in die edle Gestalt des Tiers verschauten und es am Karst, nahe bei Lipizza gezüchtet haben, wurde ab 1783 die Bezeichnung „Lipizzaner“ gebräuchlich.
Dass Lipizzaner dunkel geboren werden und erst im Alter von etwa zehn Jahren „ausschimmeln“, also milchig weiß werden, hat sich schon herumgesprochen. Doch das ist wieder ein eher unbekanntes Detail. Neben Schimmeln werden auch immer ein oder zwei braune Lipizzaner ausgebildet. Sie sind quasi die Glücksbringer für die Hofreitschule.
Unter den Bereitern hält sich seit Generationen die Meinung, „solange es einen Braunen in den Stallungen gibt, besteht die Hofreitschule“, scherzt Hausberger.
Tradition wiegt natürlich schwer. Die neue Direktorin aber dürfte mit der Last gut zurechtkommen. Seit Beginn ihrer Amtszeit im März des Vorjahres erreichte Sonja Klima gemeinsam mit dem gesamten Team von den Stallburschen bis zu den Oberbereitern das erfolgreichste Jahr in der Geschichte der Hofreitschule. Auslastung: 97 Prozent, Deckung: 94 Prozent.
Das stimmt auch Michaela optimistisch, wenn sie an ihre Zeit als Elevin denkt. „Nicht mehr lange, dann können Riga und ich alle Gänge und Touren vorführen.“
Kommentare