Drachen steigen lassen: Der Traum vom Fliegen
Bunte Punkte hoch oben am blauen Himmel. Geometrische Formen, fantastische Tierwesen, magische Gebilde. Man sieht hinauf, folgt den Blicken der anderen, und ein erstaunliches Phänomen tritt auf: Es gibt kaum jemanden, der nicht lächelt, wenn er nach oben sieht. Das große Glück am Ende einer dünnen Schnur. Wenn Drachen steigen, ist es beinahe, als würde ein Teil von uns mitfliegen. Vielleicht ist es ja tatsächlich so. Und wenn’s nur unsere Gedanken sind, die aufsteigen, vom Wind getragen und vielleicht auch ein bisschen entrümpelt werden.
Was noch auffällt, wenn man an einem sonnigen Herbsttag hinausgeht oder eines der immer beliebteren Drachenfeste besucht: Dass viele der Drachenflüsterer, die ihren fliegenden Lieblingen hinterherlächeln, erwachsene Männer und Frauen sind. „Kinder meiner Altersklasse“, stellt Franz richtig. Er ist ein Bär von einem Mann. Ein Bär im besten Alter. Früher war Franz Produktmanager in einem Telekommunikationskonzern, heute widmet er sich mit ebensolchem Einsatz seinen fliegenden Freunden.
„Ich sehe das als etwas Horizonterweiterndes“, sagt er lächelnd. Und spielt damit auch auf Zeiten an, als Drachen von der asiatischen Marine verwendet wurden, um Matrosen auf 100, 200 Meter Höhe emporzuheben und Ausschau halten zu lassen, quasi ihren Horizont nach hinten zu verschieben, und so ihr Sichtfeld zu vergrößern.
Aber tatsächlich geht es Franz um etwas Anderes, Abstrakteres: „Die Reisen, der Kontakt mit anderen Kulturen, anderen Traditionen – der Austausch, das sind faszinierende Aspekte dieses Hobbys.“ Und oft birgt genau dieser kulturelle Austausch interessante und auch erheiternde Einblicke. Franz ist im „1. Wiener Drachenbau- und Flugverein“ und der leitete für die Caritas ein Drachenbau-Projekt mit afghanischen Flüchtlingskindern und Jugendlichen. „Na da ham wir g’schaut“, sagt Franz und grinst, als er zurückdenkt. „Ich sag nur: Viel beibringen konnten wir ihnen nicht, da war kein Kind darunter, das nicht schon Dutzende Drachen gebaut hatte. Aber es war für beide Seiten eine tolle Zeit.“
Khaled Hoseinis preisgekrönter Roman "Der Drachenläufer", und natürlich auch dessen Verfilmung, machten die afghanische Tradition der "Drachenkämpfe" auch bei uns bekannt.
In Afghanistan war Drachen steigen zu lassen absoluter Volkssport. Aber im Gegensatz zu anderen Drachen-Hochburgen wie in Indien oder Ostasien gibt es kaum Möglichkeit, afghanische Drachenbauer zu besuchen oder an Festen vor Ort teilzunehmen.
Drachenkampf
Ähnlich wie in Indien liebt man dort vor allem „Drachenkämpfe“ mit leichten Papier/Bambus-Drachen, die Leinen aus Baumwolle werden in Reiskleber und Glasstaub getaucht, um damit die Leinen der Gegner zu durchschneiden. Auch in Japan und Südamerika sind Spiele dieser Art beliebt, mit leichten Abwandlungen. So werden in Brasilien, aber auch in mittelamerikanischen Ländern statt Glasstaub an den Drachen befestigte Messer benutzt, während es in Japan darum geht, den gegnerischen Drachen durch geschickte Manöver zu Boden zu bringen.
So martialisch geht’s auf der Donauinsel allerdings nicht zu, wenn Franz und andere Mitglieder des Wiener Drachenvereins ihre Lieblinge zum Fliegen bringen. „Viele Plätze in Wien gibt’s nicht mehr, die sich eignen“, wie Obmann Rolf erklärt, der Baumwuchs beeinflusst die Windschneisen, die Drachen tun sich schwer dabei, sich hochzuschrauben.
Die Wiese beim Schulschiff bietet noch ausreichend freie Fläche, an sonnigen Herbstnachmittagen wird dort begutachtet und bestaunt, neue Designs besprochen und ausprobiert. Franz ist selbst ein versierter Drachenbauer. Ron, ein Nachrichtentechniker, liebt es, aus möglichst untypischen Gegenständen, Drachen zu basteln, gebrauchte Materialien „upcyclen“, wie er das nennt: von Kleidungsstücken über Müllsäcke bis zu Überziehpatschen aus dem Krankenhaus.
„Man kann fast alles zum Fliegen bringen“, meint er. Mit ein bisschen Fantasie. Und genau das ist es, was Ron am Drachenfliegen fasziniert: Was mit Kreativität alles möglich ist. „Wenn man sich diese riesigen Bambusgebilde in Bali ansieht, mit ihren Drachenköpfen und den 100 bis 200 Meter langen Körpern, dann bleibt einem vor Staunen fast die Luft weg.“
Drachen lieben Freiheit
Ihre Kreativität brachte auch Steffi Rauchwarter vor 20 Jahren zum Drachenbau. Und zum Drachenfliegen. In ihrem Atelier in Wien-Neubau erschafft die Künstlerin Skulpturen, malt, zeichnet, bedruckt Kleider, T-Shirts, Tücher und Bezüge. Bei einem ihrer Stoffe wusste sie ganz einfach: Irgendwie muss es gelingen, ihn zum Fliegen zu bringen. Und mit Hilfe eines befreundeten Drachenbauers brachte sie ihn tatsächlich in die Luft.
Inzwischen baut Steffi Rauchwarter ihre Drachen längst selbst, fast alle aus Baumwolle, alle mit eigenem Design, sowohl was die Form als auch die Farben angeht. Vier Siebdruck-Durchgänge – bei einem ihrer großformatigen „Pyjamamänner“, menschlichen Figuren mit vier bis sechs Metern Spannweite, bedeutet das zwei bis drei Wochen Arbeit. „Das sind doch einige Meter Naht, da sitzt man schon eine ganze Weile an der Nähmaschine “, sagt sie. Und doch ist die Arbeit an den Drachen „das, wobei ich am meisten Freiheit habe“.
Die Wienerin wurde inzwischen auch zu internationalen Festen eingeladen, gestaltete das Programmheft zum renommierten Drachenfestival im italienischen Cervia. Neben Veranstaltungen an der Nordsee und im dänischen Fanö einer der ganz großen Saison-Höhepunkte, wo manchmal 4.000 bis 5.000 Drachen gleichzeitig in der Luft sind.
Ihr Tipp, für alle, die selbst einmal einen Drachen steigen lassen wollen, zum ersten Mal oder endlich wieder? „Nicht gleich wild anreißen, wenn er mal ein bissel absinkt, eher einen Schritt auf ihn zu machen, ihm Leine geben. Drachen sind antiautoritär, die brauchen ein bissel Freiheit.“
www.collaction.at/ste/de/
Infos rund um das Drachenfliegen und zu allen Drachen-Festen (z. B.: 26.-27. September in Schlosshof) finden Sie auf www.raffler.at
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