Digitaler Stress macht uns über die Jahre krank

Digitaler Stress macht uns über die Jahre krank
Umfrage: Junge Menschen fühlen sich mehr gestresst als ältere – nach dem Corona-Lockdown erhöhte sich die Belastung zusätzlich.
Von Uwe Mauch

Durchschnittlich 75 Mails lesen die Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz an einem Tag. 88 Mal unterbricht sie ihr Mobiltelefon bei Tätigkeiten, die sie begonnen haben und die sie dann nicht mehr beenden werden. Zweieinhalb Stunden während ihrer 16-stündigen Wachzeit hantieren sie mit dem ständigen Begleiter in ihrer Hand, wobei sie in dieser Zeit nur sieben Minuten telefonieren.

René Riedl, Professor für Digital Business und Innovation an der Fachhochschule Oberösterreich, ist alles andere als ein strammer Modernisierungsgegner. Umso mehr erschrecken die Studienergebnisse, die er für sein Buch „Digitaler Stress“ (232 Seiten, 24,90 Euro, im Wiener Linde Verlag erschienen) gesammelt und lesenswert aufbereitet hat.

Am Dienstag hat Riedl nicht nur das Buch, sondern auch eine repräsentative Umfrage in Wien präsentiert, die er mit Kollegen der Universitäten in Linz und Bonn durchgeführt hat. Ihr Ergebnis ist wenig überraschend: Die Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz sind müde, sehr müde sogar.

Müde Gesellschaft

Ein Szenario, das viele kennen: Das Handy läutet, im Posteingang türmt sich Ungelesenes, Soziale Netzwerke pushen unerbittlich aufs Endgerät und im Hinterkopf lauert die Angst, den Job an Künstliche Intelligenz (KI) zu verlieren - so eine Dystopie. Zumindest letzteres fürchten Menschen im deutschen Sprachraum weniger, unter der Auflösung der Trennung von Arbeit und Privatem und dem sozialen Kommunikationsdruck leiden dagegen viele Personen, so das Ergebnis der Studie zum "digitalen Stress".

3.333 Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz wurden von dem Team der Fachhochschule (FH) Oberösterreich, der Uni Linz und der Universität Bonn noch vor der Coronakrise zu dem Thema online befragt. Aus Österreich stammten 1.187 Teilnehmer im erwerbsfähigen Alter. Insgesamt verorteten sich die Österreicher beim Ausmaß des erlebten digitalen Stresses im Schnitt auf Stufe drei der siebenteiligen Skala. Kaum darüber lagen die Schweizer (3,21) und die Deutschen (3,11), hieß es bei der Studienpräsentation am Dienstag in Wien.

Auffallend viele Befragte leiden darunter, dass sie ständig erreichbar und auf mehreren Kommunikationskanälen gleichzeitig gefordert sind, dass sie mit dem Tempo der IT-Vorgaben nicht mehr schritthalten können, dass sie ihre digitalen Werkzeuge allzu oft lange warten oder gleich ganz im Stich lassen, dass der digitale Stress ihre Work-Life-Balance spürbar gefährdet.

Interessanterweise sind Jüngere mehr gestresst als ältere. Aus Experimenten wusste man bisher, dass Männer früher die Nerven wegwerfen als Frauen.

Krise als "Brandbeschleuniger"

Das könnte man derart interpretieren, dass das Phänomen möglicherweise "gar nicht so schlimm" sei, so Ko-Studienautor Riedl. Hier handle es sich jedoch "durchaus um einen Stresswert, der auf ein reales Phänomen hinweist". Außerdem sei stark davon auszugehen, dass die Krise das erlebte Ausmaß an digitalem Stress verstärkt. So werde in der Wissenschaft etwa die zunehmende Ermüdung durch Videokonferenzen als neuer Aspekt beschrieben, so Riedl.

Vor allem seit dem Siegeszug des Smartphones sei es wichtig, auch die negativen Seiten der Digitalisierung, die "viele potenzielle Stressoren" biete, zu analysieren. In seinem Buch mit dem Titel "Digitaler Stress" hat der Forscher rund 600 internationale Studien aus dem Gebiet zusammengetragen. Es zeige sich, dass mittlerweile pro Tag und Nutzer rund 75 E-Mails produziert werden, deren Bearbeitung im Schnitt um die zwei Stunden dauert. Die täglich rund 2,5 Stunden am Handy werden kaum telefonierend verbracht, was eine vor allem Internet-getriebene "Informations- und Kommunikationsmisere" hinweise, so Riedl. In seiner Arbeitstätigkeit werde man nur durch das Smartphone im Schnitt 88 Mal pro Tag unterbrochen, das zunehmende Multitasking verunmögliche immer mehr, dass sich als angenehm erlebte "Flow-Erlebnisse" am Arbeitsplatz überhaupt einstellen können.

Im Rahmen der Befragung hat sich das digital beförderte fortschreitende Einsickern der Arbeit in den privaten Bereich als "dominantester Stressfaktor" erwiesen. Auch oft genannt wurde, dass neue soziale Normen, wie der Anspruch, auf Mails sofort zu antworten, Druck erzeugen. Als weitere Stressoren werden auch das Übermaß an Funktionen in Anwendungen und damit verbundene mangelnde Nützlichkeit bzw. Unzuverlässigkeit und mangelnde technische Unterstützung häufiger genannt. Durch eine Technologie im Job ersetzt zu werden, rangiert hingegen am untersten Ende der Stressoren-Rangliste.

„Diese Belastungen gefährden unsere Gesundheit“, betont Riedl auch. Der Blutdruck steigt, über die Jahre wird das Herz angegriffen. „Da wirkt das Corona-Homeoffice als Brandbeschleuniger.“

Reduktion der Stresshormone

Für Riedl zeigt die Untersuchung auch: "Digitaler Stress führt zu emotionaler Erschöpfung." Zudem seien steigender Arbeitsstress sowie sinkende Arbeits- und Benutzerzufriedenheit zu verzeichnen, die Auswirkungen könnten in Richtung "Burnout" oder depressiver Symptome gehen. Auf Unternehmensseite könne der digitale Stress u.a. das Innovationsklima spürbar unterminieren.

Gegensteuern könne man, indem beispielsweise Mails nur zu fixen Zeiten und relativ selten gecheckt oder auf Firmenebene neue technische Systeme nicht ständig und unreflektiert ausgerollt werden. Zudem zeige sich, dass bewusster Social-Media-Verzicht Stresshormone reduzieren kann. Um im Technologiedschungel besser zurechtzukommen zahle es sich auch aus, "sich im Computerbereich weiterzubilden", sagte der Forscher.

Tipp: Facebook-Fasten kann den Blutdruck senken!

Dem digitalen Stress lässt sich auch entgegenwirken, betont Professor René Riedl. Hier drei Tipps:

# Wenigstens in der Freizeit muss man nicht ständig erreichbar sein. Studien zeigen, dass eine zeitweise Abkehr von den sozialen Medien flott den Blutdruck senkt.

# Wer es sich in seinem Beruf leisten kann, sollte seine Mailbox statt ständig nur drei, vier Mal pro Tag öffnen.
Riedl wörtlich: „Verwenden Sie auf Ihrem Handy möglichst wenige Apps, stattdessen einen Browser.“ So lässt sich das quälende Gebimmel ein wenig eindämmen.

# Unternehmen rät der Experte, in den Helpdesk ordentlich zu investieren.

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