Die vergessene Schönheit der Brieffreundschaft
Wenn Ingrid Sojak das Postfach öffnet und darin einen persönlichen Brief findet, ist das für sie „nach wie vor eines der tollsten Dinge, die es gibt“. Die 49-Jährige entdeckte ihre Leidenschaft, als sie 13 Jahre alt war: Über eine Kontaktbörse im Teletext und um Englisch zu üben, begann sie Mitte der Achtzigerjahre Brieffreundschaften mit einer Irin und einer Griechin, die etwa im selben Alter waren.
„Wir haben uns alle zwei bis drei Monate geschrieben – es hat ja immer ewig gedauert, bis ich neues Briefpapier hatte und wieder Post zurückgekommen ist“, erinnert sich die Inhaberin einer Werbeagentur. „Geschrieben haben wir über alles, die Schule, unsere Hobbys, die erste Liebe. Mit der Zeit haben sich die Themen verlagert, inzwischen haben beide Familien.“ Viele Jahre nach dem ersten Brief wurde Sojak erst nach Irland, später auch nach Kos zur Hochzeit eingeladen – und stand den fremden Vertrauten erstmals gegenüber. „Wir schreiben uns bis heute. Dass es so lange halten würde, hätte ich nie gedacht.“
Sehnsucht nach Haptik
Brieffreundschaften und rege Korrespondenzen gibt es seit der Antike, der britische Autor Simon Garfield bezeichnete sie einmal als „Öl im Getriebe des menschlichen Miteinanders“. Manche, etwa jene zwischen Goethe und Schiller, gingen in die Literaturgeschichte ein (siehe unten).
Die Brieffreundschaft zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe begann 1794 und dauerte mehr als zehn Jahre bis zu Schillers Tod.
Pippi-Langstrumpf-Schöpferin Astrid Lindgren pflegte eine Brieffreundschaft mit einem Fan: Sara Schwardt schrieb 1971 als Zwölfjährige einen Brief an Lindgren – der Beginn einer 30 Jahre dauernden Brieffreundschaft.
Der Maler Franz Marc, Schöpfer des „Blauen Reiter“, unterhielt eine Brieffreundschaft mit der Dichterin Else Lasker-Schüler. Die Neujahrspostkarte, die er ihr 1912 schickte, war eine Vorzeichnung des berühmten Gemäldes „Turm der blauen Pferde“.
Der Lyriker Erich Fried, dessen Geburtstag sich am 6. Mai zum 100. Mal jährt, unterhielt eine jahrelange Brieffreundschaft mit dem Neonazi Michael Kühnen.
Lotte Tobisch, Inbegriff der Wiener Salondame, und der Philosoph Theodor W. Adorno schrieben einander von 1962 bis zu seinem Tod 1969.
Barbara Mader
Für die Generation der Babyboomer öffneten Brieffreundschaften das Tor zu fremden Ländern, Sprachen und Kontinenten und so mancher Millennial erinnert sich noch an das Schreiben auf „Diddl“-Briefpapier. Dann kam das Internet.
Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden die Papierschreiben nach und nach durch eMails und Chatprogramme ersetzt. Doch die Pandemie lässt den Wunsch nach analogem Austausch wieder aufleben: Der britische Guardian berichtete kürzlich gar von der „überraschenden Rückkehr der Brieffreundschaft“.
„Jetzt, wo alles online ist, macht sich mehr und mehr eine Sehnsucht nach dem analogen Leben breit“, beobachtet auch die Psychologin und Schreibtrainerin Johanna Vedral (schreibstudio.at). „Es erscheint uns kostbarer als das beliebige Digitale. Wir freuen uns, im Briefkasten nicht nur Rechnungen und Werbung zu finden, sondern handgeschriebene Briefe.“
Denn diese seien ein Ausdruck von Wertschätzung: „Wir schreiben Briefe – Unikate, keine Rundmails oder Facebook-Posts – an besondere Menschen und schenken ihnen so das Kostbarste, das es in unserer Welt gibt: Zeit.“
Generation Tiktok
Nicht nur Erwachsene sehnen sich nach Briefkontakten. Bei der Online-Börse Sumsi gingen im Vorjahr dreimal so viele Anfragen ein, heißt es aus der Redaktion. Viele Kinder äußerten den Wunsch, sich in der für sie langweiligen Zeit mit jemandem auszutauschen. Auch Sarah und Anna, beide 15 und mit sozialen Medien aufgewachsen, sind vor Kurzem auf den Geschmack gekommen. Im Rahmen eines Projekts gegen die Pandemie-Vereinzelung animierte sie ihre Lehrerin an der Wirtschaftsfachschule Amstetten, handgeschriebene Briefe zu verfassen.
Zu ihrer Überraschung blieben fast alle Schüler dran. Sarah tauscht sich seitdem mit einer 36-Jährigen aus, Anna mit einer 83-Jährigen. Es geht um die Schule, Corona, Pferde. „Es ist ganz anders als Whatsapp, viel persönlicher“, stellen die beiden fest. „Man überlegt sich genauer, was man schreibt und ob der andere den Satz versteht. Die Briefe helfen, dass man sich in der Corona-Zeit weniger einsam fühlt.“ Auch Schreiben fiele ihnen jetzt leichter.
Nicht nur trainiert Briefeschreiben die bedrohte Kulturtechnik der Handschrift, es hat – gerade in der Krise – auch einen therapeutischen, meditativen Effekt. Studien belegen, dass Erlebtes besser verarbeitet wird, wenn man es händisch zu Papier bringt. Schreiben stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und bietet eine Pause von der digitalen Reizüberflutung, weiß die Psychologin. „Mit der Hand zu schreiben, entschleunigt und erfordert Sorgfalt. Briefeschreiber genießen die Konzentration ohne Pop-ups und Benachrichtigungen. Man denkt einen Gedanken fertig, ohne zwischendurch zu googeln. Es gibt keine Schnellschüsse und Instant-Antworten. Man kann Ungeduld und Sehnsucht spüren.“ Kein grünes Häkchen verrät, ob und wann der Brief den Empfänger erreicht hat, wann dieser zurückschreibt, an welchem Tag eine Antwort eintrudelt. So bleibt ein Nervenkitzel.
555 Briefe in 12 Jahren
Ein Gefühl, das Hedi Ströher seit 80 Jahren begleitet. Ihre ersten Briefe schrieb sie im Zweiten Weltkrieg, als ihre Familie von Wien an den Attersee floh. Es war ihr Cello-Lehrer, mit dem sie in den Kriegsjahren schriftlich Kontakt hielt. Mit einigen Jugendfreundinnen verbindet die 91-Jährige seit damals eine Brieffreundschaft. „Das Schreiben hält mich geistig fit. Ich hatte immer viele Briefpartner“, erzählt die aktive Seniorin.
Seit 2009 korrespondiert sie mit einem Mann, den sie in der Sommerfrische an der Rax kennengelernt hat. „Er ist so alt wie mein Sohn und schreibt so gern wie ich. Am Anfang haben wir viel philosophiert, jetzt schreiben wir einfach, was wir so gemacht haben. Ich schmeiße die Briefe ja immer weg, er hat sie gezählt: 555 sind es bis jetzt!“
Was macht den Reiz einer Brieffreundschaft aus? Sie verbindet zwei Menschen auf ähnliche Weise wie bei einem Blind Date – doch statt des Aussehens steht die gemeinsame Lust an der Sprache, am Schreiben und an der Selbstreflexion im Vordergrund, sagt Vedral, die selbst Brieffreundschaften pflegt. In einer Kommunikationsära, die von Tiktok-Videos und Voicemails geprägt ist, sind Briefe ungewohnte Herausforderungen: „Sie zwingen uns, unseren schriftlichen Ausdruck zu verfeinern. Wie vermittle ich ein Zwinkern, einen ironischen Unterton, Begeisterung ohne Mimik oder Emojis? Wie erzeuge ich Bilder, welche interessanten Fragen kann ich stellen?“
Hedi Ströher beweist mit ihren 91 Jahren auch, dass es nie zu spät ist für eine neue Brieffreundschaft. Kurz vor dem Lockdown begann sie, mit einer Lehrerin aus ihrem Bezirk hin und her zu schreiben. Das Kribbeln, die Vorfreude habe sich in all den Jahren nicht verändert. „Am Vortag mache ich mir schon Gedanken, was ich schreiben könnte und wie ich es formuliere. Man schreibt ja nicht mit jedem gleich.“ Ein Gefühl von Isolation im vergangenen Jahr hätten nicht zuletzt ihre vielen Briefe verhindert.
Nur mit ihrem Mann, der 65 Jahre an ihrer Seite war, schrieb sie keine Briefe. „Er hat gesagt, die leere Seite macht ihm Angst. Ich konnte das nie nachvollziehen.“
Sumsi
Kinder und Jugendliche geben online Anzeigen auf – oder antworten darauf. Mit Vorname, Alter, Hobbys. www.sumsi.com
Slowly App
Die App zielt auf tiefsinnige Konversation im schnellen Chat-Zeitalter ab. www.slowly.app
Brief an unbekannt
Die Psychologin Sylvia Hintersteiner vernetzt seit Mai 2020 Schreibwillige. Brief an: „Initiative Brieffreund“, Postfach 012,
3300 Amstetten. In Wien vermittelt die Initiative „Achtsame 8“ Briefkontakte. www.achtsamer.at
Penpal Gate
Wer Fremdsprachen intensivieren und internationale Kontakte knüpfen möchte, ist hier richtig. www.penpal-gate.net
Lingoo
Hier finden Kinder und Jugendliche Briefpartner, mit denen sie Sprachen üben und Auslandsbesuche vereinbaren können. www.lingoo.com
Kommentare