Die alte Dame und ihre Tagebücher
Sie schreibt und schreibt – immer noch. Erika Neuberger, 94, führt seit 80 Jahren Tagebuch. Da sitzt sie, eine zarte Person im hellblauen Pulli, und schaut auf die gesammelten Werke. Wie viele es genau sind, weiß weder sie noch ihre Tochter, Sabine Klar. Es sind Geschichten von den Anfängen des Nationalsozialismus, vom Krieg, von Leben und Überleben, vom Glück der Natur. Von wunderbaren Eltern, dem besonderen und politischen Vater. Von einer Kindheit in Hernals, ohne Autoverkehr und Lärm. Geschichten vom Träumen, Verlieren und Kämpfen.
Politische Notizen
Kein Tagebuch gleicht äußerlich dem anderen, da ein paar Schulhefte, dort Notizbücher, dazwischen hübsch gebundene Alben und richtige Tagebücher mit Leinendeckel. Alle vollgeschrieben, in harmonisch geschwungener Lateinschrift. Dazwischen getrocknete Blumen oder Seiten, auf die das Mädchen Erika mit Bleistift nur ein „Ich liebe dich! Oh Gott, ich liebe!“ gekritzelt hat. 15 Jahre alt war Frau Neuberger als sie im Jahr 1940 erstmals zum Stift griff: „Ich habe begonnen zu schreiben, was ich erlebt und gefühlt habe oder was mich belastet hat. Auch Kitsch.“
Sie lacht glockenhell, ihre Augen funkeln, immer wieder schlägt sie kraftvoll auf den Tisch, um Gesagtes zu unterstreichen. Wenn sie etwa erzählt, was sie während der Nazizeit in ihr Tagebuch eingetragen hat: „Man durfte damals nichts reden, also musste man schreiben. Mein Vater war gegen Hitler, das hat sich auf mich ausgewirkt“, erinnert sie sich. Viele Tagebucheinträge waren politisch motiviert, das war riskant. „Meine Eltern hätten nie darin gelesen, doch mein Bruder, der eineinhalb Jahre älter war als ich, hat herumgeschnüffelt. Er hat den Eltern erzählt, dass ich politische Sachen notiere und wie gefährlich das sei. Zurecht, alle hatten Angst, was ich schreibe. Ich habe trotzdem nicht aufgehört.“
Die Erinnerungen sind präsent: „Ich war 13, 14 Jahre alt, in der dritten oder vierten Klasse, da war Hitler schon da. Wir haben nichts Gutes erwartet. Eines Tages habe ich gesehen, wie meine jüdische Freundin den Boden reiben musste.“ Die SA hat das Kaufhaus ihrer Tante, Ecke Hernalser Hauptstraße/Wurlitzergasse, ausgeräumt, sie war die Witwe eines jüdischen Kaufmanns.
Das oft zitierte „Früher war alles besser“ mag Erika Neuberger gar nicht: „So ein Blödsinn. Es war nicht alles besser. Ich habe so viel Schreckliches erlebt.“ Wer in ihren Tagebüchern blättert, entdeckt dennoch viel Frohsinn und den großen Wert des kleinen Glücks: „Ich habe mich über alles gefreut, was zum Freuen war.“ Über die Natur, zum Beispiel, und – ach ja, genau – die Liebe! „Mit meinem ersten Mann bin ich sonntags auf Bäume gestiegen, wir haben Nietzsche gebrüllt: Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, Trübsal-Mörder, Himmels-Feger.“
Zufrieden sein
Als glücklichen Menschen „von Haus aus“, empfindet sie sich: „Die anderen sehen oft schwarz. Ich habe wenig gebraucht, um zufrieden zu sein.“ Über „damals“ zu plaudern, belebt die alte Dame – was uns weit weg erscheint, ist für sie oft greifbarer als das Hier und Jetzt. Kulturelle Erinnerungen und Impressionen etwa: „Ich war viel in der Oper, Volksoper, im Burgtheater und hatte ein Musikvereinsabo. Das dort Erlebte habe ich aufgeschrieben.“ Damit nichts verloren geht. Tut es nicht: Erika Neuberger kann den „Meister Eckhart“ von Goethe auswendig oder erinnert sich an Textpassagen aus „Gräfin Mariza“. Sie machte in Zeitzeugen-Projekten mit, man traf sie bei Erzählrunden im Wien Museum, ihre Erinnerungen flossen ins Projekt „Menschen schreiben Geschichte“ der Universität Wien ein.
Nach einem Schlaganfall vor einigen Jahren fällt ihr das Reden etwas schwer, sie wird rund um die Uhr betreut. Jeden Tag kommt sie jemand besuchen. Erika Neuberger ist geistig rege, sie liest Bücher, interessiert sich für das aktuelle Geschehen – und sie schreibt. Vor ihr liegt ein Tagebuch, in das sie täglich notiert, was ihr wichtig scheint. Nichts Weltbewegendes mehr, wie sie meint: „Ich beschäftige mich mit Politik, aber auf meine Art. Doch ich schreibe nichts mehr dazu.“ Vieles dreht sich um den Alltag: „Dass man mich ins Bad bringt, ich mit einem guten Shampoo geduscht und danach eingeschmiert werde. Dass ich ein gutes Frühstück mit Kaffee bekomme und meine Medikamente. Das ist, was zählt“, sagt Frau Neuberger. Also steht da heute, dass sie gestern Abend „ihren Schubert“ beim Einschlafen nicht wie jeden Tag hören konnte, weil der CD-Player nicht mitmachte. „Das hat mich geärgert, ich schlucke sowas nicht herunter, ich schreibe es auf.“ Momentaufnahmen aus dem Leben einer Dame, die heuer im Mai ihren 95. Geburtstag feiern wird. Für ihre Tochter Sabine sind auch die neuen Tagebuchnotizen wertvoll: „Sie geben mir Informationen, was meine Mutter braucht und was sie belastet. Darauf reagiere ich.“ Von den „alten“ Büchern hingegen hat sie nur jene gelesen, die ihr die Mutter bisher gegeben hat: „Für mich war das wichtig, denn auf diese Weise hatte ich die Gelegenheit, ihre Perspektive auf mich als Kleinkind und Kind nachzulesen. Das war irritierend, erhellend und berührend zugleich.“
Erinnerungsschatz
Erika Neuberger war fast ihr ganzes Leben lang Alleinerzieherin, ihr erster Mann verließ sie 1949 als der gemeinsame Sohn drei Jahre alt war, ihr zweiter Mann starb, als Tochter Sabine drei war. Sabine Klar begann selbst mit 12, 13 Jahren Tagebuch zu schreiben, das sie – man darf raten – von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat. Versperrbar war es, weil, so Frau Neuberger, „es einen Bereich gibt, der heilig bleiben muss“. Die Tagebücher ihrer Mutter empfindet Sabine Klar als Schatz. Es sind Geschichten, die für immer bleiben. Manche davon digitalisiert sie nun, „wir machen daraus ein Buch für uns, die Familie“. Frau Neuberger lächelt: „Ich glaube, ich muss dafür noch ein paar Sachen aus der Kinderzeit aufschreiben.“
Einmal noch schlägt sie kraftvoll auf den Tisch: „Schreiben Sie bitte in die Zeitung, wie wichtig Schreiben ist – und politisches Interesse. Das ist lebensnotwendig.“
Tagebuchschreiben gilt längst als bewährte Methode zur Selbsthilfe, zum Beispiel, um mit belastenden und traumatischen Erlebnissen fertig zu werden. Dass Schreiben die Angst zähmen kann, bemerkte Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur. Durch Sprache wird so manches erträglich.
Das wahrscheinlich berühmteste Tagebuch der Welt wurde von Anne Frank (1929-1945) verfasst. Die Jüdin notierte von 1942 bis zu ihrer Verhaftung 1944 Privates, beschrieb Erlebnisse in der NS-Zeit und in ihrem Versteck im Hinterhaus.
Auch der Schriftsteller Thomas Mann schrieb ein Leben lang Tagebuch.
Literaturwissenschaftlich betrachtet, sind Tagebücher Dialoge mit sich selbst, individuell und frei von jeglichen Regeln. Jedes Tagebuch ist also ein unikates, persönliches Dokument. Es dient als Kummerkasten, Analyse-Couch oder stummer Zuhörer.
Tagebuchschreiben liegt wieder im Trend – man schreibt zum Beispiel Glückstagebücher oder Traumtagebücher. Doch weil’s heute schneller gehen muss, setzen viele auf „Journaling“ und schreiben nur mehr nieder, wofür sie dankbar sind.
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