Klassentreffen
Mariam freut sich. „Schau!“, sagt sie strahlend und kratzt mit einem Stöckchen in den roten Sand des Dorfplatzes. Es ist ein „E“. „Das hab’ ich heute gelernt. Morgen lerne ich noch einen Buchstaben. Und dann kann ich bald lesen und schreiben!“ Mariam wohnt in Tongoronko, einem 300-Einwohner-Dorf in Mali. 50 Meter von uns entfernt, ein wenig den kleinen Hügel hinab, auf dem die Lehmsiedlung gebaut ist, scheint der Niger teilnahmslos in seinem breiten Bett zu ruhen.Und fließt doch gemächlich und unaufhaltsam weiter Richtung Timbuktu, wo einst eine der ältesten Universitäten der Welt stand. Die Sankore, ein blühendes Zentrum der Bildung mit einer Bibliothek, die vor 700 Jahren alles, was es in Europa gab, in den Schatten stellte. Doch das ist lange her. Und Timbuktu ist für Mariam ebenso unerreichbar wie die Schule, in die ihr Bruder Mussa geht. Vier Stunden Fußmarsch, zwei hin, zwei zurück. Dennoch hat der Bub freiwillig noch keinen Tag versäumt. „Er kann sogar schon rechnen“, erzählt Mariam stolz, „und weiß alles über die Tiere Afrikas.“
Aber es ist nicht der weite Weg, der Mariam vom Lernen abhält. Die Kinder werden in erster Linie zu Hause gebraucht, als Hilfe auf dem Reisfeld, beim Fischen, Wasserholen. Kaum mehr als ein Kind pro Familie darf eine Schule besuchen. Und das ist mit hundertprozentiger Sicherheit kein Mädchen... „Ich muss arbeiten“, sagt die zehnjährige Mariam trotzdem fröhlich. „Sauber machen, auf meine Geschwister aufpassen und nachmittags die Fische, die mein Vater fängt, auf dem Markt verkaufen.“ Erst seit eine österreichische Hilfsorganisation Lehrer mit einem Boot direkt in die abgelegenen Dörfer bringt, erlauben ihr die Eltern, den Unterricht zu besuchen. Der kleine Versammlungsplatz in Tongoronko, auf dem der Lehrer vor drei Stunden seine Tafel aufgestellt hat, war überfüllt von Mädchen und jungen Frauen, die mit leuchtenden Augen und brennendem Ehrgeiz Buchstaben in ihre neuen Notizblöcke malten. Ein gutes Zeichen. Denn Studien ergaben, dass es vor allem die Alphabetisierung der Frauen ist, die auf lange Sicht für Wohlstand sorgt. „Wenn ich dann lesen und rechnen kann, werden sie meine Mama und mich auf dem Markt auch nicht mehr so oft betrügen können“, sagt Mariam. „Papa wird nicht mehr schimpfen – und wir werden viel mehr Geld haben.“ Dann winkt sie zum Abschied, sie muss sich beeilen, Essen kochen für ihre Eltern, die von der Feldarbeit nach Hause kommen. Ob ihr Traum je in Erfüllung gehen wird, ist ungewiss, der Angriff der Islamisten aus dem Norden hat viel der ohnehin labilen Infrastruktur zerstört. Aber ihr strahlendes Gesicht, die Freude, die sie an ihrem ersten selbstgeschriebenen Buchstaben hatte, haben sich ins Gedächtnis gegraben. Denn egal ob in Afrika, Asien oder Südamerika: Die Möglichkeit, in eine Schule zu gehen und zu lernen, die Chance auf Bildung bedeutet auch die Chance auf eine Zukunft ohne Armut.
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